Das mit der Demokratie ist so eine Sache. Einst bei den antiken Griechen als Herrschaft derjenigen gedacht, die ihr Staat als Staatsvolk etwas anging und die sich mit Tat und Geld an seinem Wohlergehen beteiligten, setzte sich im 19. Jahrhundert die Vorstellung durch, dass ein jeder Staatsbürger – unabhängig davon, ob er das Wohl des Staates mehrt oder dieses mindert – das Recht haben müsse, darüber zu entscheiden, wohin die Reise geht. Auch die Frauen, zuvor über Jahrtausende als Mündel ihrer Gatten behandelt, durften seit dem frühen 20. Jahrhundert mit darüber entscheiden, welche Politik gemacht werden sollte.
Die Idee der Gewaltenteilung
Für die zumeist jungen Demokratien des westlichen Europas galt eine 1748 erstmals in Genf veröffentlichte Idee als maßgeblich. Ihr Vordenker, der Baron de Montesquieu, schrieb sie in seinem Buch „Vom Geist der Gesetze“ nieder und nannte sie Gewaltenteilung. Dieses klassische Konzept der europäischen Aufklärung sollte sicherstellen, dass in einem modernen Staat nicht einzelne Personen oder Personengruppen ohne Legitimation und ohne Kontrolle die anderen beherrschen konnten. Deshalb teilte Montesquieu die vom Staat ausgehende Macht – hier noch als „Gewalt“ bezeichnet – in drei verschiedene Segmente, welche jeweils unabhängig voneinander agieren sollten.
Die eine dieser Gewalten war die Exekutive. Sie war es, die als ausführende Gewalt der Organisation des Staates zuvor gleichsam allmächtig gewesen war. Optimal vertreten durch einen Herrscher von Gottesgnaden konnte sie Gesetze erlassen, die Staatsgeschäfte steuern, sogenanntes Recht über jene sprechen, die missfielen. Diese Allmacht war es, die Montesquieu mit seinen Überlegungen zu Fall bringen wollte.
Um dieses zu bewerkstelligen, dachte er sich neben der Exekutive zwei weitere Gewalten: Die Legislative und die Judikative.
Die Legislative hatte die ausschließliche Aufgabe der Gesetzgebung. Sie sollte im Namen der Bürger Gesetze entwickeln, die dem Gemeinwohl und dem zivilisierten Zusammenleben der Menschen innerhalb eines Staates dienen sollten. Für die Durchführung und notfalls auch Durchsetzung dieser Gesetze allerdings war die Legislative nicht zuständig. Diese Aufgaben lagen bei den anderen Gewalten.
Hier wiederum bekam die Judikative ihre entscheidende Aufgabe. Ihr oblag es, die in den Gesetzen gewollten Ziele unabhängig von fremden Interessen durchzusetzen. Richter sollten deshalb in jeder Hinsicht unabhängig von den beiden anderen Gewalten sein – sie sollten objektiv ausschließlich nach dem Inhalt des Gesetzes ihre Urteile sprechen.
Die Unvereinbarkeit gleichzeitiger Doppelangehörigkeiten
Um das Zusammenspiel dieser drei Gewalten und darüber die Funktionsfähigkeit des darauf basierenden Systems dauerhaft zu sichern, galt als unveräußerliche Regel: Wer der einen Gewalt angehört, darf nicht gleichzeitig Mitglied einer anderen sein. Denn wäre er dieses, so bestünde seine Unabhängigkeit von der jeweils anderen Gewalt nicht mehr: Der Legislativvertreter würde sich von Verwaltungszielen leiten lassen, der Richter von denen der Gesetzgebung, der Regierungschef als Legislativvertreter sich Gesetze nach seinen Wünschen schaffen.
Diese gewünschte Unabhängigkeit der Gewalten voneinander bedingte die Unabhängigkeit ihrer Akteure. Die Legislative sollte von Personen vertreten werden, die im modernen Massenstaat die Bürger repräsentierten und nur diesen gegenüber unmittelbar verantwortlich waren. Hierzu entwickelte sich die Parlamentarische Demokratie – ein Modell, welches mangels der Unmöglichkeit, jedes komplizierte Gesetz von jedem Bürger abstimmen zu lassen, unabhängige Bürgervertreter durch freie, gleiche und geheime Wahlen in die Legislative entsandte.
Etwas schwieriger schon wurde es bei der Exekutive. Würde deren Zusammensetzung von den Legislativvertretern bestimmt, so gäbe es hier ungewünschte Abhängigkeiten – und es bestünde die Gefahr, dass der Exekutivvertreter nicht nach der in seinem Amt gebotenen Vernunft agiert, sondern sich als verlängerter Arm legislativer Teilinteressen verstünde. Deshalb wählte beispielsweise die Verfassung der ersten deutschen Demokratie von 1871 das Modell, den obersten Regierungsvertreter – also den Kopf der Exekutive – durch das Staatsoberhaupt bestimmen zu lassen. Die Zusammensetzung der Ministerriege wiederum oblag dann dem Kanzler als Premierminister. Kanzler wie Minister waren nun wiederum der Legislative rechenschaftspflichtig – und konnten letztlich sogar von dieser gestürzt werden.
Schwächen der Besetzung
Nachdem dieses Modell seine Schwächen offenbart hatte, indem ein Kanzler unter Zuhilfenahme basisdemokratischer Abstimmungsmöglichkeiten an der Legislative vorbei sein Amt mit dem des Staatsoberhauptes vereinte und so eine Diktatur schuf, verlagerte man die Besetzungsaufgabe für das Kanzleramt faktisch auf die Legislative. Die dahinter stehende Erwartung: Ein von der Legislative abhängiger Chef der Exekutive würde nicht mehr, wie der letzte Kanzler des 1945 von den Siegermächten zu Grabe getragenen Deutschen Reichs, über diese hinweg die drei Gewalten auf seine Person konzentrieren können.
Damit soll nun das Problem der Besetzung der Judikative angesprochen werden. Denn mehr noch als bei den beiden anderen Gewalten ist hier die absolute Unabhängigkeit der Agierenden zu gewährleisten, steht ihnen doch im Ernstfall sogar die Aufgabe zu, Recht über Verantwortliche der beiden anderen Gewalten zu sprechen. Wie aber dieses sicherstellen?
Ein scheinbarer Königsweg wäre es, dass die Richterschaft selbst und ausschließlich darüber zu bestimmen hat, wer in die Judikative aufsteigt. Allerdings wäre dieses dann eine Gewalt, die nur durch sich selbst kontrolliert würde. Die Kenntnis des menschlichen Charakters ließ also davon abraten, hier gleichsam eine Juristenkaste zu kreieren, die ungehindert ihre individuellen Vorstellungen den beiden anderen Gewalten – und damit dem Volk – aufzwingen können würde.
So kam man dort, wo Vertreter der Judikative gleichsam Schlüsselfunktionen für den Staat zu übernehmen haben, zu der Überlegung, es mit Richterwahlausschüssen zu versuchen. Diese zumeist von Vertretern aus Legislative und Exekutive besetzten Institutionen sollten in sich selbst die Kontrolle organisieren, welche die Unabhängigkeit der Judikativvertreter zu gewährleisten hatte. Tatsächlich jedoch hat sich auch dieses Modell nur als begrenzt zweckmäßig erwiesen, da ebenso politische Koalitionenbildung wie Proporzgedanken nunmehr dafür sorgten, selbst höchste Richterämter mit Juristen aus Legislative oder Exekutive zu besetzen – womit die Unabhängigkeit durchaus zu hinterfragen wäre. Gleichwohl ist dieses Verfahren immer noch besser, als die Besetzung ausschließlich der Exekutive zu überlassen – wobei auch das noch zu vertreten wäre, erfolgte sie nicht quasi auf Lebenszeit zumindest bis zur Pensionierung, womit die Kontrolle eines Richters durch die anderen Gewalten faktisch mit dessen Bestellung erledigt ist, sondern befristet auf festgeschriebene Zeitfenster.
Macht durch Gewaltenteilung zügeln
Bei der klassischen Gewaltenteilung ging es also darum, ein Staatswesen unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls durch verschiedene Institutionen führen zu lassen, die durch ihre Möglichkeiten der gegenseitigen Kontrolle das Staatsschiff auf geradem, freiheitlichen und am Bürgerwollen orientierten Kurs zu halten.
Tatsächlich ist es nun so, dass Macht nicht selten wie eine Droge wirkt. Derjenige, der von ihr gekostet hat, kann nicht von ihr lassen und verlangt beständig nach mehr. So ist es nachvollziehbar, dass auch unter den nun geteilten Gewalten ein beständiger Kampf um Macht und Einfluss herrscht: Wer bestimmt tatsächlich, wohin das Staatschiff steuert? Wer steht am Ruder, wer sitzt im Ruderraum der Staatsgaleere? Wer dröhnt die Kesselpauke, damit die Rudersklaven nicht aus dem Takt kommen?
Das Grundgesetz als Versuch der Optimierung
In der 1949 auf dem Boden des alliierten Protektorats Deutschland gegründeten Bundesrepublik glaubte man das Galeerenmodell bereits überwunden. Selbstverständlich: Am Steuer stand auch hier der Chef der Exekutive, genannt Bundeskanzler. Doch die früheren Galeerensklaven waren zu Mitreisenden aufgestiegen, die in regelmäßigen Abständen ihre Decksmannschaft in den Parlamenten bestimmen durften, welche wiederum den Mann am Steuer über im Parlament beschlossene Gesetze wissen ließ, wohin die Reise zu gehen hatte. Und aus dem Kesselpauker waren jene führenden Richter geworden, die nur noch dann auf die Pauke zu schlagen hatten, wenn Decksmannschaft oder SteuerCrew einen falschen Weg einzuschlagen schienen.
Doch so gut es auch gedacht war: Die als Grundgesetz bezeichnete, vorläufige und bis heute wirksame Verfassung hatte in ihrem Versuch, als Fehler empfundene Regelungen früherer Verfassungen nicht zu wiederholen, nun ihrerseits Mängel installiert, deren Konsequenzen seinerzeit nicht absehbar waren. Der entscheidende Mangel war es, neben den klassischen drei Gewalten unbemerkt eine vierte geschaffen zu haben. Nein, nicht die sich selbst gern der Hybris als „Vierte Gewalt“ hingebenden Medien sind gemeint – es ist die Rede von den Parteien.
Die Institutionalisierung von Staatsparteien
Rückblickend auf scheinbare Mängel der Weimarer Phase des Deutschen Reichs, sollten nun die Parteien unabhängig werden von unkontrollierbaren Finanzströmen aus unbekannten Quellen – und um das infolgedessen zu erwartende, finanzielle Defizit der Parteien auszugleichen, erfand die Legislative nach der bereits erfolgten Umwandlung des ehrenamtlichen Parlamentsamtes in eine bezahlte Tätigkeit die Idee der staatlichen Parteifinanzierung. Das ist insofern bereits im Ansatz problematisch, da bereits seinerzeit feststand, dass die Positionen in der Legislative maßgeblich von eben jenen Parteien bestückt würden, welche über Höhe und Bestand der staatlichen Parteifinanzierung bestimmten. Somit waren die Grundprinzipien der Unabhängigkeit als auch der Kontrolle faktisch ausgehebelt.
Ein weiteres zur Verlagerung der Macht vom Volk auf die Institution Partei tat das Wahlrecht, welches ursprünglich nur die Entscheidung über die nun bedeutsame Listenplatzierung in die Parteivorstände verlagerte. Durch die real in die Tat umgesetzte Koppelung von Listenplatz an Wahlkreisnominierung lag nun die Entscheidung über den Einzug in das Repräsentativorgan der Legislative maßgeblich bei den durch den Staat institutionalisierten Parteien. Deren vorrangiges Ziel lag nicht mehr darin lag, über das Parlament die Arbeit der Exekutive zu steuern, sondern selbst die Exekutive zu führen, zur Exekutive zu werden. Damit entfiel weitgehend die ursprünglich vorgesehene Kontrollfunktion der Legislative über die Exekutive, da die jeweiligen Mehrheitsfraktionen an einer solchen Kontrolle kein Interesse hatten und zum Ausführungsorgan der Exekutive bei der Durchsetzung von dort entwickelten Gesetzesvorhaben wurden. Die sogenannten Oppositionsfraktionen gaben ihre kontrollierende Funktion ebenfalls zunehmend ab, was einerseits in der Wirkungslosigkeit möglicher Opposition seine Ursache hatte, gleichermaßen aber auch dadurch bestimmt wurde, dass die Opposition als institutionalisierter Teil der Machtausübung selbst beständig zur Teilhabe an der Exekutive strebte und damit auf grundlegende Kritik und klassische Fundamentalopposition verzichtete.
Die demokratische Metamorphose
Der Wandel von der Parlamentarischen Demokratie zur Parteiendemokratie ist jedoch nur der erste Schritt auf dem Weg der demokratischen Metamorphose. Dadurch, dass das Parlament als Legislative seine Macht- und Kontrollfunktion innerhalb der Gewaltenteilung einbüßte, schuf es nunmehr ein Machtvakuum, welches zu füllen war. Hier gilt in staatlichen Systemen dieselbe Grundregel wie in der Biologie: Wird ein Biotop freigegeben, finden sich andere, die ihn für sich nutzen.
Im Falle der ausgehenden Parlamentarischen Demokratie ging der Weg über sogenannte Bürgerbeteiligung mit angeblich basisdemokratischen Elementen direkter Demokratie. Bürgerinitiativen und Volksabstimmungen wurden zu einer Konkurrenz der zurückweichenden Parlamente mit zumeist deutlich geringeren Mehrheitsquotenanforderungen als beim parlamentarisch-repräsentativen Prozess – vor allem aber mit der Freiheit, in personeller Zusammensetzung, inhaltlicher Zielsetzung und eingesetzter Kampagne gänzlich von den Grundregeln demokratischer Meinungsfindung und Mehrheitsbildung befreit zu sein. Der sogenannte Volksentscheid brachte es mit sich, dass nicht das Sachargument oder die fachliche Debatte über das Ergebnis entschied, sondern die Fähigkeit zur Popularisierung des jeweiligen Zieles Erfolg oder Misserfolg verantwortete. In einer Gesellschaft, die über ihre Proletarisierung auch die Wissenschaft vorrangig durch Randgruppenspezifika in den Sozialwissenschaften emotionalisierte, wurden die klassischen Gemeinwohlinteressen durch emotiven Populismus substituiert. Bundeskanzler Angela Merkel brachte dieses – vielleicht ungewollt – auf den Punkt, als sie das „postfaktische Zeitalter“ ausrief.
Die NGO als APO
Die Möglichkeit, politische Ziele ohne demokratische Legitimation seitens der Bevölkerung über die mediale Popularisierung entsprechender Themen zu erreichen, schuf etwas, das die Außerparlamentarische Opposition (APO) der Phase der Studentenproteste ersetzte und neudeutsch als „Non-gouvernmental Organisation“ (NGO) oder Nichtregierungsorganisation bezeichnet wird: Zusammenschlüsse von Vertretern singulärer oder komplexer Ziele, in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts insofern noch als „single/multiple issue groups“ bezeichnet.
Diese ursprünglich systemkritischen NGO wurden in den ersten beiden Dekaden des 21. Jahrhunderts zunehmend über staatliche Subventionierung selbst zu Institutionen der Gewaltenteilung, die mit der Legitimation durch staatliche Finanzierung einen den Parteien vergleichbaren Status erhielten, ohne wie diese an innerdemokratische Regeln gebunden zu sein. Als solche institutionalisierten undemokratischen Organisationen wirken sie heute unmittelbar und deutlich nachhaltiger und effektiver als die entmachteten Parlamente. Über den von ihnen organisierten Grad der Emotionalisierung der Bevölkerung wirken sie unmittelbar in das Exekutivhandeln hinein.
NGO propagieren ihre Ziele medial im außerparlamentarischen Raum in enger Kooperation mit in den Medien platzierten Verbündeten. Anders als klassische pressure-groups des parlamentarischen Lobbyismus agieren sie öffentlich, da hinter ihrem politischen Druck vorgeblich kein wirtschaftliches Interesse und damit keine Wirtschaftskraft steht. Vielmehr wirken sie in der Nachfolge jener früher den Kirchen und Religionen zugeordneten Jenseitigkeit, indem die von ihnen definierten, metaphysischen Wesensaspekte ihrer Ziele nicht minder „höhere“ Ideale verkörpern, deren Durchsetzung gegen tatsächliche oder aus marketingtechnischen Gründen erfundene Widerstände zum vorgeblich vorhandenen Willen einer breiten Bevölkerung stilisiert wird.
Somit wird das undemokratisch entwickelte „Issue“ von gut organisierten Minderheiten zum gesamtgesellschaftlichen, politischen Ziel gewandelt, welches angesichts der vorgeblich breiten Unterstützung wiederum unmittelbar in das Exekutivhandeln einfließt. Beispielhaft hierfür stehen der Atomausstieg und die sogenannte „Flüchtlingspolitik“, welche sämtlich ohne vorangegangene, gesellschaftlich-wissenschaftliche Debatte und ohne parlamentarische Beschlussfindung auf Basis temporär erzeugter Emotion exekutiert wurden. Aktuell findet sich dieses Vorgehen unter anderem bei den Themen Kohleausstieg und Verbot des Verbrennungsmotors, aber auch beim Dogma des sozialen Wohnungsbaus und der rechtsfern angewandten Asylpolitik als Instrument der Masseneinwanderung.
NGO sind die wahren Populisten
Das Geschäft der NGO ist unmittelbar gekoppelt an die öffentliche Popularisierung ihrer Machtziele, die nicht selten über die Skandalisierung vorgeblicher Missstände oder befürchteter Fehlentwicklungen geschieht. NGO sind die eigentlichen Meister des Populismus. Sie nutzen bei der Durchsetzung ihrer Ziele in konsequenter Fortsetzung der in der Phase „direkter Demokratie“ gewonnenen Erfahrungen jenen Emotionsaspekt, der zwecks Manifestation als Bürgerwille gern durch nicht selten pseudowissenschaftliche „Erkenntnisse“ unterlegt wird. Jene „Erkenntnisse“ werden in der Tradition marxistischer Dialektik als unanfechtbar behauptet, woraus die Unabwendbarkeit des deklarierten Zieles herzuleiten sei. Eine sachorientierte Diskussion ist somit nicht nur unerwünscht – sie wird vielmehr emotiv als moralisch unzulässig abgewertet und auf diesem Wege verhindert, da sie zur Voraussetzung hätte, die (pseudo)wissenschaftlichen Erkenntnisse auf ihren tatsächlichen Sachhintergrund hinterfragen zu müssen.
Insofern bedarf die Vorgehensweise der NGO auch nicht des Arguments – sie ersetzt dieses durch emotional gesteuerte Behauptung des Guten. Damit findet sie den Schulterschluss mit dem entsprechenden, menschlichen Bedürfnis, „Gutes“ zu tun, also das eigene Gewissen dadurch zu beruhigen, einer vorgeblich höheren, über die eigene Bedeutung hinausgehenden Aufgabe zu dienen.
Das wiederum erklärt, weshalb NGO ein ausschließlich in Wohlstandsgesellschaften anzutreffendes Phänomen sind: Die unbewusste Erkenntnis, dass es dem Menschen in der Wohlstandsgesellschaft vorgeblich unverdient besser geht als jenem, der in den Slums Asiens oder Afrikas aufwächst, sucht nach emotionalem Ausgleich (klassisch als Gewissensberuhigung bezeichnet), ohne dabei den eigenen Wohlstand grundsätzlich in Frage stellen zu müssen.
NGO und die mit ihnen verbündeten Medien bedienen diese individuelle Suche nach emotionalem Ausgleich über das Definieren von gesellschaftlichen Auffassungen (neudeutsch: „Framing“) und das Schaffen von Begriffsstereotypen („Branding“), welche gemeinsam als „Haltung“ positioniert werden. „Haltung“ definiert dabei einen durch die Institutionen kollektiv behaupteten gesellschaftlichen Konsens, welcher sich dadurch auszeichnet, die emotionalisierten Ziele jenseits parlamentarisch-demokratischer Entscheidungsfindungsprozesse absolut zu setzen. NGO leben insofern von der psychologisch als Ersatzhandlungen zu verstehenden Unterstützung jener, denen die Konsequenz einer im Sinne ihrer Emotionen notwendigen, radikalen Abkehr von ihrer Lebenswirklichkeit unzumutbar erscheint. Die Bereitschaft der Bürger wird hierbei durch flankierende Erzählungen („Narrative“) ergänzt, welche Framing und Branding in einen scheinkomplexen Zusammenhang des Unvermeidbaren betten. So wird erreicht, dass das NGO-Issue den Absolutheitscharakter des Unwidersprechbaren erhält: Die Alternativlosigkeit des zu früheren Zeiten und in entsprechend ausgerichteten Gesellschaften bis heute als gottgewollt-unvermeidbar deklarierten Anspruch der Ewigkeit.
Die Spaltung der Gesellschaft
Absolutheitsanspruch funktioniert ausschließlich auf der Grundlage von Ausgrenzung: Das „Wir“ als die absolut Guten gegen das „die anderen“ als die absolut Schlechten.
In der aktuellen Situation der Bundesrepublik der ausgehenden zweiten Dekade des 21. Jahrhundert definiert das institutionelle Framing jenes Schlechte mit der Inflationierung des Begriffs „rechts“. „Rechts“ steht nunmehr nicht wie ursprünglich für eine inhaltliche Positionierung auf dem liberalkonservativen bis reaktionären Flügel des Parlaments, sondern bezeichnet alles, was sich außerhalb des als „Haltung“ definierten Rahmens, welcher sich selbst wiederum als „links“ versteht, verortet wird.
Da das institutionalisierte Framing ständig neue und weitere Lebensbereiche erfasst, wird notwendig die Zahl jener, die sich zumindest partiell außerhalb des als „Haltung“ bezeichneten Rahmens bewegen, kontinuierlich größer. Das organisiert angesichts der vorsätzlichen Sprachlosigkeit zwischen jenen, die als Vertreter der Institutionellen Demokratie innerhalb des Systems “Haltung beweisen“, und jenen, denen als außerhalb des Systems agierend „Haltung“ abgesprochen wird, die Spaltung der Gesellschaft in Haltungs-Konformisten und Non-Konformisten – eine Spaltung, die, sollte sie nicht überwunden werden können, sich in bürgerkriegsähnlichen Aktionen Ventile schaffen kann.
Die Rolle der Judikative als Legislativorgan
Nicht unbeachtet bleiben darf bei der Metamorphose der auf dem Repräsentationsgedanken basierenden Parlamentarischen Demokratie zur Institutionellen Demokratie die Rolle der ursprünglich dritten Gewalt als Judikative. Hier ist nicht nur, aber insbesondere auf der Ebene der Verfassungsgerichtsbarkeit festzustellen, dass zunehmend mehr Richter über eigene legislative, mehr noch aber exekutive Karrieren verfügen. Auf die Rolle der Wahlausschüsse bei dieser Entwicklung wurde bereits hingewiesen.
Die Folge dieser über die Personen organisierten Exekutivbindung ist der Verlust der ursprünglichen Neutralität im Sinne absoluter Unabhängigkeit von den anderen institutionalisierten Gewalten. Deutlich erkennbar wird die Aneignung ursprünglich ausschließlich legislativer Privilegien durch die Gerichte immer dann, wenn deren Urteile sich nicht auf die Begründung der Zustimmung oder Ablehnung zu einem Antrag beschränken, sondern – mittlerweile die Regel – politische „Handlungsempfehlungen“ geben, welche vom Gesetzgeber zu berücksichtigen seien, wolle man eine künftige Überprüfung durch das Gericht positiv bestehen.
Die Judikative schlüpft folglich mittelbar in die Rolle des Gesetzgebers – eine Aufgabe, die ihr als unabhängiges Kontrollorgan keinesfalls zusteht. Die Möglichkeit, dieses zu tun, basiert ähnlich dem Erstarken der NGO zu staatlich-institutionellen Mitspielern auf dem Machtvakuum, welches die Parlamente als heute weitgehend aus der Exekutive gesteuerte Legislative zugelassen haben.
Insbesondere das höchste deutsche Gericht beteiligt sich maßgeblich an der Definition von „Haltung“ ebenso wie an der Umwandlung der Repräsentativen in eine Institutionelle Demokratie. Beispielhaft sei hierfür jenes Urteil benannt, welches das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der NPD sprach. Statt, wie es seine Aufgabe gewesen wäre, anhand einer vorliegenden Beweislage über das Verbot dieser Partei zu entscheiden – was unumgänglich wäre, so die Verfassungsfeindlichkeit festzustellen wäre – verlagerte das Gericht seine Verantwortung als Auftrag auf jenes zunehmend weniger eigeninitiativ agierende Parlament, welches aufgefordert wurde, durch Entzug der staatlichen Parteienfinanzierung an die Stelle des Parteienverbots zu treten.
Das Parlament entsprach der Aufforderung und dokumentierte damit gleichzeitig eine weitere Phase in der Metamorphose der Demokratie. Denn es traf nunmehr die definitive Unterscheidung in Parteien mit institutionellem Status – jene, die sich selbst über die Parteienfinanzierung dazu machen – und jene ohne einen solchen Status, weil sie von der staatlichen Subventionierung abgekoppelt werden. Künftig haben daher Parteien nur noch die Wahl, sich entweder als systemkonform im Sinne der „Haltung“ zu präsentieren – oder auf die institutionalisierende Parteienfinanzierung zu verzichten.
Die Weiterentwicklung zur Rechtsdiktatur
Wie sehr die Metamorphose zur Institutionellen Demokratie bereits fortgeschritten ist, in welchem Umfange die Institutionen ihren ihnen ursprünglich zugewiesenen Handlungsrahmen verlassen haben – und wohin sie in der Endstufe führen wird – zeigen einige aktuelle Geschehnisse.
So meldete die Süddeutsche Zeitung am 27. August 2018, dass der Bayerische Verwaltungsgerichtshof erwäge, „Erzwingungshaft“ gegen Politiker zu verhängen, sollten diese nicht bestimmte Ziele aus dem NGO-Sektor in die Tat umsetzen. Damit verlässt die Judikative definitiv ihre auf Kontrolle der beiden anderen Gewalten beschränkte Funktion und geht dazu über, nicht nur in die Legislative gesetzgeberisch hinein zu wirken, sondern auch noch die Funktion der Exekutive zu übernehmen.
Ähnliche Konstrukte sind international gegenwärtig beispielweise aus dem Iran bekannt, in dem ein als „Wächterrat“ deklariertes, institutionalisiertes Gremium gleichzeitig als Legislative, Judikative und Exekutive agiert. Somit wird nun auch in der Bundesrepublik Deutschland der Rechtsstaat durch das Rechtsdiktat ersetzt, indem die Judikative gezielt Aufgaben der Legislative und der Exekutive an sich zieht oder diese nach dem politischen Willen der Judikativvertreter instrumentalisiert.
Die Metamorphose von der Repräsentativen, Parlamentarischen Demokratie über die Institutionelle Demokratie hin zur Rechtsdiktatur scheint sich dabei nicht nur der aktiven Flankierung durch Vertreter des linken politischen Spektrums zu erfreuen, welche insbesondere als „grüne“ Partei beständig Verbotskonzepte zur unmittelbaren Verhaltensbeeinflussung der Bevölkerung generieren – auch Angela Merkel hat in ihrem Sommerinterview mit einem bemerkenswerten Satz ihr rudimentierendes Demokratieverständnis dargelegt.
Sie befand: „Wenn diese Unabhängigkeit der Institutionen im Lande nicht mehr gewahrt wird, dann wäre die Demokratie nicht mehr vollständig. Deshalb muss da aufgepasst werden. Wir haben Gerichtsentscheidungen zu respektieren. Hier darf nichts ins Rutschen kommen.“
Des Weiteren müsse, so die Frau Bundeskanzler, „in der Sprache sehr darauf geachtet“ werden, dass die Institutionen und ihre Unabhängigkeit geachtet würden. Demokratie sei mehr, als dass nur irgendwie jemand eine Mehrheit bekomme. Explizit nannte Merkel dann den Schutz von Minderheiten, die Pressefreiheit, unabhängige Gerichte sowie „Demonstrationsmöglichkeiten“ – wobei sie zwischen „Demonstration“ und „Möglichkeiten“ spürbar zögerte. Letzteres ist insbesondere deshalb bemerkenswert, weil das Grundgesetz ausdrücklich von „Demonstrationsrecht“ als Bürgeranspruch spricht – nicht von „Demonstrationsmöglichkeit“ als einem nach Ermessen der Obrigkeit zu erteilenden Gnadenakt.
Von der „vollständigen“ zur unvollständigen Demokratie
In diesem Zusammenhang erklärt sich dann auch jene interessante Formulierung von der Demokratie, die nicht mehr „vollständig“ sei, sollte die „Unabhängigkeit der Institutionen“ nicht gewahrt werden. Jenseits dessen, dass diese „Unabhängigkeit“ im Sinne des Montesquieu längst nicht mehr vorhanden ist, impliziert Merkels Formulierung, dass für sie Demokratie selbst dann immer noch ist, wenn sie nicht mehr ist. Denn mit der Demokratie verhält es sich wie mit der Schwangerschaft: Ein bisschen geht nicht. Entweder ganz – oder gar nicht.
Wovon Merkel spricht, wenn sie die Vorstellung einer unvollständigen Demokratie als Möglichkeit in den Raum stellt, deutet sie an. Es geht um die Unabhängigkeit „dieser“ Institutionen, an denen mit deutlichen Worten Kritik zu üben nicht kommod ist – also um jene staatlich geschaffenen und geförderten Instrumente der Machtausübuung, welche im Sinne der „Haltung“ staatskonform agieren. Nicht mehr die Freiheit und Unabhängigkeit des Bürgers bestimmt das geltende Demokratieverständnis im Bundeskanzleramt, sondern die „Unabhängigkeit“ der Institutionen. Doch unabhängig wovon, wenn die Gewaltenteilung ohnehin überwunden ist?
Das wiederum macht der konkrete Anlass der Merkel‘schen Formulierung und der Hinweis auf die Unzulässigkeit von Kritik deutlich: Diesen konkreten Anlass gibt das jedwedem Bürgerverständnis Hohn sprechende, gleichwohl im Sinne geltenden Rechts zulässige Urteil des Münsteraner Oberverwaltungsgerichts zur Causa „Sami A.“.
Der Institutionenstaat
Das bundesrepublikanische Regierungssystem ist im Verständnis seiner führenden Vertreter heute nicht mehr eines, welches über den Weg der Repräsentation auf Volkswillen basiert, sondern eines, welches sich über die Ziele, Handlungen und Interpretationen seiner Institutionen definiert. Der politische Wille des einzelnen Bürgers findet seinen Weg in das Exekutivhandeln nur noch über den Weg durch die staatssichernden Institutionen – als Parteien, NGO, Gerichte. Als Lobbygroup wiederum dürfen nur Gruppen agieren, welche als NGO über die staatliche (Ko)Finanzierung entweder unmittelbar subventioniert oder durch finanzierende Auftragserteilung institutionalisiert werden – beispielhaft seien hier jene im Zuge des staatlichen Internet-Spitzelsystems institutionalisierte Amadeu-Antonio-Stiftung, die Vereinigung von Medienaktivisten mit nicht-deutschen Wurzeln namens „Neue Deutsche Medienmacher“, aber auch jene „Bertelsmann-Stiftung“ genannt, welch letztere maßgeblich die Ausrichtung der Migrationspolitik zu verantworten hat.
Dieses System funktioniert nur, wenn die staatlich zu autorisierenden Institutionen über eine jeweils kollektive Identität mit entsprechendem Selbstverständnis und scheinbar klar erkennbaren Durchsetzungszielen verfügen, die ihnen die Institutionalisierung als Gruppenvertretung zwecks Beinflussung bis Mitwirkung bei Regierungsentscheidungen und in die Bevölkerung hinein ermöglicht und sie als Institutionen den Anspruch erwerben lässt, innerhalb der Institutionellen Demokratie mitwirkungsberechtigt zu sein. Individualinteressen sind grundsätzlich durch das Kollektiv der Institution zu filtern und, so die Institution deren Berechtigung anerkennt, zu vertreten – andernfalls sind sie irrelevant und mangels Lobbygroup jenseits der Wahrnehmungsschwelle.
Über der Identität der institutionalisierten Kollektive schwebt die „Haltung“ als gemeinsame Suprakollektividentität, welcher sich alle staatlich anerkannten NGO und Gremien als Institutionen zu unterwerfen haben. Die Institutionen dürfen an der Definition der staatlichen Ziele mitwirken – allerdings nur insoweit, als sie die Idee der gemeinsamen, übergeordneten Identität der Institutionen innerhalb der Institutionalisierten Demokratie nicht in Frage stellen, also „Haltung bewahren“ bzw. systemkonform handeln. Hierbei wird die Konformität inhaltlich derzeit noch durch die beiden verbliebenen, um die finale Deutungshoheit ringenden traditionellen Gewalten Exekutive und Judikative definiert, wobei deren Ablösung durch das vordemokratische Diktat der NGO bereits auf den Weg gebracht ist.
Die NGO als Räte
Tatsächlich handelt es sich bei dieser Entwicklung weder um eine bundesdeutsche Singularität noch um ein politiktheoretisches Novum.
Der Blick auf die Organisation der Europäischen Union zeigt, dass dort die Kernelemente der Institutionellen Demokratie von vornherein installiert wurden. Das Europäische Parlament ist in vielerlei Hinsicht nur ein Ablenkungsmanöver, während die eigentlichen Entscheidungen in den Kommissionen und auf Exekutivebene ohne demokratische Kontrolle fallen. Die Bundesregierung passt insofern das System der Bundesrepublik lediglich dem EU-Modell an.
Auch die Ablösung der unmittelbaren Bürgermitwirkung, gleich ob ursprünglich über Repräsentation bei der Wahl von unabhängigen Wahlkreisabgeordneten oder durch Elemente „direkter“ Demokratie gewährleistet, über das Etablieren einer Filterinstanz ist kein unbekanntes Kriterium. Allerdings hießen die analog den NGO zu verstehenden Institutionen in den entsprechenden Regierungssystemen seinerzeit „Rat“ – und organisierten in ähnlicher Weise zum einen die Platzierung der „Frames“ im Volk, wie sie andererseits individuelle, nicht der Haltung entsprechende Bürgerwünsche herausfiltern und in die Irrelevanz verbannten.
Vorwärts in die Vergangenheit
Was wir gegenwärtig in der Bundesrepublik erleben, ist eine moderne – weil unblutige – Form der Umwandlung einer repräsentativen Demokratie in eine Räterepublik, in der die Funktion der Räte durch die NGO wahrgenommen wird.
Hinsichtlich der in einem solchen System unverzichtbaren „Haltung“ streiten die Institutionen derzeit noch um ihre jeweilige Deutungsrelevanz. Nachdem die Parlamente sich bereits aus diesem Prozess verabschiedet haben, stoßen NGO und Gerichte in das entstandene Vakuum als zur Exekutive konkurrierende Gewalten. Dabei deutet sich zumindest in einigen der aktuellen Fälle eine enge inhaltliche Übereinstimmung der Zielkoordinaten beider Institutionen an – weshalb am Ende des Prozesses durchaus eine durch emotive Zielperspektiven gesteuerte Rechtsdiktatur stehen kann.
Neu wäre ein solches Gesellschafts- und Regierungssystem tatsächlich nicht. Es wurde in vielfältiger Form durchgetestet – bis im Europa der frühen Neuzeit Denker wie Montesquieu neue Wege der Überwindung des unwissenschaftlichen Meinungsdiktats aufzeigten. Wege, deren Protagonisten jedoch irgendwann die Kraft fehlte, für diese zu kämpfen, und die so den Weg frei machten für jenen derzeit ablaufenden Prozess eines überzeugten „Vorwärts in die Vergangenheit“!