„Wir befinden uns im Jahre 2021 n. Chr. Ganz Afghanistan ist von den Taliban besetzt … Ganz Afghanistan? Nein! Ein von unbeugsamen Tadschiken bevölkertes Tal hört nicht auf, dem Eindringlich Widerstand zu leisten.“
So könnte in Anlehnung an die beliebten Asterix-Geschichten das nächste Kapitel in der nicht endenden Katastrophe am Hindukusch lauten.
Der tadschikische Widerstand
Wer sich noch an die Zeit erinnert, bevor die NATO den nun gescheiterten Versuch unternahm, das Land zu befrieden und westeuropäische Kulturvorstellungen durchzusetzen, dem wird vielleicht der Name Ahmad Schah Massoud in Erinnerung sein. Massoud war Tadschike, eine im Norden Afghanistans siedelnde Minderheit. Massoud war Stammesführer – und charismatischer Mudschaheddin. Und er war Führer der sogenannten Nordallianz im Kampf gegen die paschtunischen Taliban.
In seinem Kampf war der 1953 im Panjshir, einer Talprovinz nordöstlich von Kabul, geborene Massoud derart erfolgreich, dass die Paschtunen am 9. September 2001 – zwei Tage vor dem Angriff auf die USA – ein als belgisches TV-Team getarnten AlQaida-Selbstmordattentäter bei Massoud einschleusten und den von seinen Männern zutiefst verehrten Führer tödlich verwundeten. Afghanistan verlor damit einen Mann, dem zugetraut worden war, das Land in eine friedliche und demokratische Zukunft zu führen.
Für die radikalislamischen Paschtunen, die umgehend eine erfolglose militärische Offensive gegen das Panjshirtal starteten, schien damit der Weg frei für die totale Machtübernahme. In Russland mag manch Militärführer einen Krimsekt geöffnet haben, war es doch Massoud, der neun Großoffensiven, mit denen die Rote Armee versucht hatte, das Tal zu erobern, erfolgreich zurückschlug. Auch in Pakistan, dessen Geheimdienst ebenfalls Jahre daran gearbeitet hatte, den Tadschiken zu ermorden, dürfte manch Glückwunschtelegramm verschickt worden sein.
Afghanischer Nationalheld – für die einen
Nachdem die USA die Radikalmuslime der Paschtunen vorerst besiegt zu haben schienen, wurde Massoud zum „Nationalheld der afghanischen Nation“ erklärt – ein Held allerdings war er zeitlebens nur für jene Afghanen, die sich mit dem Steinzeitislam der Taliban nicht anfreunden mochten. Selbst überzeugter Moslem, stand Massoud gleichwohl in grundlegender Opposition zum aus Saudi-Arabien gesteuerten, wahabitischen Radikalismus, auf den sich Taliban ebenso wie AlQaida berufen.
Im von den Taliban scheinbar befreiten Afghanistan wurde es ruhig um die Tadschiken. Und weitgehend ruhig war auch der Stützpunkt Masar-i-Sharif, an dem die Bundeswehr ihre Zelte aufschlug. Masar-i-Sharif war Territorium der Nordallianz und die Tatsache, dass es gegenwärtig ebenfalls unter der Kontrolle der Taliban steht, ist nur ein Ergebnis der undurchdachten Besatzungspolitik der NATO und deren panischen Abzugs.
Alte Fronten neu belebt
Nichts geändert allerdings hat sich an der gegenseitigen Abneigung der gemäßigt muslimischen Tadschiken und den vom Pakistanischen Geheimdienst unterstützten Taliban. Und auch einen Ahmad Massoud gibt es immer noch – den an der Militärakademie Sandhurst ausgebildeten Sohn des gleichnamigen Schah, geboren am 10. Juli 1989 ebenfalls im Panjshirtal. Dort ist er heute Führer seiner Tadschiken und entschlossen, gleich seinem Vater sich nicht den Paschtunen zu unterwerfen.
Als „Führer der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans“ veröffentlichte Massoud Junior am 18. August 2021 in der Washington Post einen Namensartikel, in dem er den Kampf seines Vaters um das Schicksal seines Landes auch als einen Kampf für den Westen bezeichnet. Ihm selbst und seinen Leuten sei stets bewusst gewesen, dass dieser Tag, an dem die Taliban erneut nach der Macht greifen werden, irgendwann kommen musste. Deshalb hätten er und seine prowestlichen Mudjaheddin nie aufgehört, sich auf die unvermeidliche Auseinandersetzung vorzubereiten. Er und seine Männer stünden bereits, in die Fußstapfen seines berühmten Vaters zu treten und den Kampf um ein freies, modernes Afghanistan zu kämpfen. Seinem Aufruf zum Widerstand seien nicht nur zahlreiche Afghanen gefolgt, sondern auch Teile der offiziellen Afghanischen Armee, die sich ihm mit ihren Waffen und ihrem Equipment angeschlossen hätten. Gleichwohl stehe zu erwarten, dass der Kampf um die Freiheit mehr Waffen und Munition erfordere, als seine Kämpfer derzeit hätten. Deshalb appelliere er an die Regierungen und Freunde in Washington, Paris und London, seinen Kampf um die Freiheit zu unterstützen.
„Wir haben so lange für eine offene Gesellschaft gekämpft, in der Frauen Ärzte werden konnten, unsere Presse frei berichtete, unsere Jugend tanzen und Musik hören oder sich in jenen Stadien, die einst von den Taliban für öffentliche Exekutionen missbraucht wurden, am Fußball begeistern konnten“, versucht Massoud Junior an die Herzen der Bürger der nun geflohenen Staaten zu appellieren.
Die Paschtunen fürchten Massoud immer noch
Ob der Westen, an den sich Massoud wendet, in seinem Sinne reagieren wird, ist derzeit nicht absehbar. Einiges deutet gegenwärtig darauf hin, dass die Geschlagenen zwischen Washington und Berlin nur noch fort wollen: Irgendwie ein Scheinabkommen mit den Taliban zusammenschustern und danach die Sintflut. Und so einen Verbündeten opfern, der von seinen paschtunischen Gegnern offensichtlich mehr gefürchtet wird als die Truppen der NATO: Während an der Grenze zum Panjshir der erfahrene Feldkommandant Qari Fasihuddin Einheiten der Taliban zum Angriff führt, erklärt die Führung der Paschtunen, dass über die Provinz der Tadschiken der Belagerungszustand verhängt worden sei, man jedoch an einer friedlichen Lösung interessiert wäre. Ähnliches verlautet bei den Taliban-Freunden in Islamabad. Pakistans Außenminister ließ wissen, man hoffe, dass es in der Panjshir-Provinz nicht zu einer Schlacht kommen. Man wolle weder dort noch anderswo ein Blutbad.
Ob sich ein solches allerdings vermeiden lässt, wenn die Taliban tatsächlich in das Tal einmarschieren sollten, steht in den Sternen. So gibt es bereits Meldungen, dass Massouds Armee bereits 300 Talibankämpfer getötet haben soll. Ob diese Meldungen zutreffen, lässt sich jedoch gegenwärtig nicht verifizieren.
Kampflos allerdings werden die Tadschiken ihr Tal nicht den Paschtunen ausliefern. Dass sie in der Lage sind, ihre Heimat gegen jeden Feind zu verteidigen, hatten sie bereits im Kampf gegen die Sowjetarmee unter Beweis gestellt. Und ob Massoud lange allein gegen die radikalislamische Pakistan-Allianz stehen wird, darf ebenfalls bezweifelt werden. So werden bereits Kämpfe von Widerstandskämpfern aus der angrenzenden Baghlan-Provinz gemeldet. Auch ist vorstellbar, dass die von den Paschtunen unterdrückten Minderheiten der Uzbeken – sie waren bereits unter Massoud Senior Verbündete – und der Hazara, an denen die Paschtunen bereits Massaker begangen haben sollen, demnächst den Zusammenschluss mit den Tadschiken suchen, um die einst erfolgreiche Nordallianz neu aufleben zu lassen.
Selbst für den Fall, dass die westlichen Geheimdienste darauf verzichten sollten, Massoud gegen die Taliban zu unterstützen – in die ehemaligen Sowjetprovinzen Uzbekistan und Tadschikistan bestehen nicht nur uralte Stammesbande. Dort wird das Erstarken des radikalen Islam an den eigenen Südgrenzen auch mit ausgeprägter Skepsis gesehen, was zumindest eine klammheimliche Unterstützung des Widerstands gegen die Taliban wahrscheinlich werden lässt. Und so könnte aus dem Tal nördlich von Kabul tatsächlich ein gallisches Dorf werden, das dem Eindringling auch ohne Zaubertrank trotzt.