Tichys Einblick
"Richterlein"

Ärztepräsident Montgomery und der Wunsch nach einer Politik im Gleichschritt

Der jüngste Ausfall des Ärztefunktionärs Frank Ulrich Montgomery gegen Richter, deren Urteil ihm missfällt, passt leider in die Zeit. Politische Korrektive und Beschränkungen werden in Frage gestellt, wenn sie nicht auf der vorgegebenen Linie sind.

Frank Ulrich Montgomery, Vorstandsvorsitzender des Weltärztebundes, zu Gast bei Anne Will im Ersten am 7.11.2021

IMAGO / Jürgen Heinrich

Der Chef des Weltärztebundes hat rhetorisch zugeschlagen: „Ich stoße mich daran, dass kleine Richterlein sich hinstellen und wie gerade in Niedersachsen, 2G im Einzelhandel kippen, weil sie es nicht für verhältnismäßig halten. Da maßt sich ein Gericht an, etwas, das sich wissenschaftliche und politische Gremien mühsam abgerungen haben, mit Verweis auf die Verhältnismäßigkeit zu verwerfen. Da habe ich große Probleme“, wusste Frank Ulrich Montgomery (er ist auch Präsident der Bundesärztekammer und Präsident des Ständigen Ausschusses der Ärzte der Europäischen Union CPME) mitzuteilen. Man muss sich diese Sätze einmal auf der Zunge zergehen lassen, um richtig zu verstehen, was sich hier offenbart.

Richter werden herabgewürdigt

Montgomery spricht von „Richterlein“. Das ist nichts anderes als eine vorsätzliche Herabwürdigung jener Herren des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg, dessen 13. Senat eine Anordnung der Landesregierung Niedersachsens, wonach Ungeimpfte nur noch in Lebensmittelgeschäften Zutritt hätten, wegen der darin enthaltenen Unverhältnismäßigkeit gekippt hatte.

Oberverwaltungsgerichte sind nicht irgendwas. In der Bundesrepublik Deutschland ist die Verwaltungsgerichtsbarkeit in drei Ebenen aufgebaut. Die unterste Ebene bilden die Verwaltungsgerichte, von denen es in Niedersachsen sieben gibt. Diesen Verwaltungsgerichten übergeordnet ist das Oberverwaltungsgericht. Von denen gibt es in den Bundesländern jeweils nur eines – in Niedersachsen hat es seinen Sitz in der ehemaligen Salzstadt Lüneburg. Die oberste Ebene, die für die Bundesrepublik insgesamt zuständig ist, stellt das Bundesverwaltungsgericht. Es hat seinen Sitz in Leipzig.

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Angesichts dieses Aufbaus darf unterstellt werden, dass in einem Oberverwaltungsgericht weder juristische Deppen noch Anfänger sitzen. Die „Richterlein“, wie der Doktor sie herabwürdigt, sind gestandene Juristen und darauf spezialisiert, das Spannungsverhältnis zwischen Bürger und Staat mit besonderer Sorgfalt zu beurteilen. Denn das ist die Hauptaufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit: Es hat dafür zu sorgen, dass „der Staat“ (also jenes undurchschaubare Konglomerat von Bürokratie und politischer Führung) gegenüber dem Bürger nicht übergriffig wird. Solch eine Übergriffigkeit meinte das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in jener unverhältnismäßigen Anordnung gegen Ungeimpfte erkennen zu müssen, weshalb sie diese Anordnung außer Kraft setzte.
Nur die Meinung eines „unterqualifizierten Doktorleins“?

Gut möglich, dass sich der juristische Laie Montgomery über diese Entscheidung geärgert hat. So mag man ihm auch das Recht zubilligen, seinen Unmut zu äußern. Wenn der Sohn eines britischen Besatzungssoldaten allerdings von „Richterlein“ und von einer richterlichen „Anmaßung“ spricht, dann geht das nicht nur auf der persönlichen Ebene deutlich zu weit – es offenbart auch ein tiefsitzendes Missverhältnis zur freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung (FDGO).

Der Radiologe Montgomery hätte seine Meinung äußern können. Er hätte beispielsweise die Welt wissen lassen können, dass er das Urteil des OVerwG in der Sache für falsch hält. Das hätte ungefähr dieselbe fachliche Qualität, wie wenn einer der Lüneburger Oberverwaltungsrichter hätte wissen lassen, dass er eine von Montgomery durchgeführte Strahlentherapie für falsch halte. Ohne Zweifel dürfen wir einem Fachjuristen unterstellen, von Radiologie nicht die geringste Ahnung zu haben – doch in unserer freiheitlichen Rechtsordnung darf jeder jede Meinung äußern, solange sie eben nur eine Meinung ist und niemanden in seiner Ehre verletzt.

Das allerdings gilt auch umgekehrt. Wir dürfen unterstellen, dass Montgomery von Verwaltungsrecht ungefähr genau so viel Ahnung hat wie ein Oberverwaltungsrichter von Radiologie. Meinen hätte er demnach können, was immer ihm gerade durch den Kopf geschossen ist. Doch der Radiologe ist deutlich über das Ziel hinausgeschossen. „Anmaßende Richterlein“ – das ist eine Tatsachenbehauptung und Beleidigung, keine Meinung. Es wäre ungefähr so, als ob unsere Richter von Montgomery als „unterqualifiziertes Doktorlein“ gesprochen hätten.

Allerdings ist die Einordnung des Montgomery’schen Wortes damit immer noch nicht abgeschlossen. Denn bis zu diesem Punkt wäre es nur Grund und Anlass für die geschmähten Richter, gegen den Wortvergewaltigen strafrechtlich vorzugehen.

Montgomery geht aber noch einen Schritt weiter. Im Aufbau der Bundesrepublik Deutschland kommt der Gerichtsbarkeit und insbesondere der Verwaltungsgerichtsbarkeit eine maßgebliche Rolle zu. Ein Oberverwaltungsgericht, dessen Unabhängigkeit absolute Priorität hat, ist eine bedeutende, staatliche Institution, die ihren Rang nur wenig unter der eines Landesverfassungsgerichts hat. Damit nun aber richtet sich Montgomerys Attacke nicht nur gegen die Richter als Personen, sondern gegen die entsprechende Institution. Diese, so verlangt es der Arzt, habe sich „etwas, das sich wissenschaftliche und politische Gremien mühsam abgerungen haben“, zu unterwerfen.

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Geht’s noch, Herr Dr. Montgomery? Verwaltungsgerichte haben – ich wiederhole dieses – vorrangig die Aufgabe, staatliches Handeln und damit solches „politischer Gremien“ zu beurteilen und gegebenenfalls zu korrigieren. Umgekehrt war das einst unter der Gewaltherrschaft der nationalen Sozialisten, den Montgomerys Vater als britischer Offizier 1945 mit großen Opfern niederzuringen half, und in jenem deutschen Staat, den die Russen 1949 als „Deutsche Demokratische Republik“ gegründet hatten und von der mein Deutschlehrer immer sagte, sie sei weder deutsch, noch demokratisch, noch eine Republik.

In totalitären Staaten ist es so, wie Dr. Montgomery sich das wünscht: Politische Gremien beschließen etwas – und die Gerichte haben zu kuschen. Solange allerdings in der Bundesrepublik noch ein paar demokratische Restreflexe zucken, ist und bleibt das genau umgekehrt. Politik mag beschließen, was sie will – das letzte Wort haben (hoffentlich) unabhängige Gerichte. Und daran ändert sich auch nichts dadurch, dass Dr. Montgomery damit „große Probleme“ hat.

Die Wissenschaftsgläubigkeit als Ersatzreligion

Das alles wäre nun nur halb so dramatisch, wäre es lediglich dem Unverstand und fehlenden Rechtsstaatsverständnis eines Ärztefunktionärs entsprungen. Leider aber zeigt sich dieser Trend, alles einer gedachten Meinung zu unterwerfen, längst auch in der gesamten Republik. Beispielsweise dann, wenn Katharina Dröge, frisch gekürte Vorsitzende der Grünen-Fraktion des Deutschen Bundestages, meint, dass „das 1,5-Grad-Ziel alle Ministerien bindet“.

Auch hier die Frage: Geht’s noch, Frau Dröge? Möglich, dass grüne Verhandler solchen Unsinn in den Koalitionsvertrag geschrieben haben. Tatsache allerdings ist, dass es eine solche, ideologisch begründete Bindungswirkung nicht gibt. Sollte ein Ministerium sich einen feuchten Kehricht um solche vorgeblichen Ziele kümmern, dann kann der Bundeskanzler den Minister vor die Tür setzen und damit die Koalition gefährden – mehr aber auch nicht. Ansonsten ist der Minister frei in seinem Tun.

Womit wir nun bei einem weiteren Irrtum sind, dem die Dröges und Montgomerys unterliegen. Gemeinsam mit Fridays for Future sind sie der Auffassung, dass etwas dann, wenn es „wissenschaftlich“ begründet sei, ungefähr denselben ultimativen Stellenwert habe wie eine Sure des Koran für einen tiefgläubigen Muslim. Das allerdings kann nur dann zutreffen, wenn Wissenschaft zum Religionsersatz wird. Demjenigen jedoch, der sich mit Wissenschaftstheorie beschäftigt, sollte bewusst sein, dass Wissenschaft alles andere ist als eine Institution, die Wahrheiten produziert. Wissenschaft schafft Erklärungen, nicht mehr. Sie versucht, Vorgänge zu verstehen und zu erklären, und sie wagt es gelegentlich, geschöpfte Erkenntnisse in die Zukunft zu projektieren. Das nennt sie dann wahlweise Prognose oder neuerlich auch „Modellierung“. Was nun wiederum unmissverständlich bedeutet, dass hier etwas von Menschen gemacht wird, was als Ergebnis einer „Modellierung“ so sein kann – oder eben auch nicht. Die Wissenschaft, dass wissen zumindest halbwegs schlaue Leute, ist eine Geschichte von Irrtümern und Fehleinschätzungen.

„Haldenwang, übernehmen Sie!“

Doch zurück zum Montgomery’schen Kern. Sachgerecht betrachtet sind dessen Aussagen nichts anderes als jene ausgerechnet von Bodo Ramelow beklagte „Verächtlichmachung des Staates“, indem eine staatliche Institution wie das Oberverwaltungsgericht gezielt und mit Vorsatz lächerlich gemacht werden soll. Nun ist es zwar ein Treppenwitz der Geschichte, wenn ausgerechnet ein Kommunist, der sein Staatsamt ausschließlich der antidemokratischen Revision eines parlamentarischen Mehrheitsbeschlusses zu verdanken hat und der mit seiner Weigerung, eine Neuwahlvereinbarung einzuhalten, selbst alles dafür tut, den Staat in den Augen seiner Bürger verächtlich zu machen, solche Sätze in die Welt setzt – doch auf Montgomery treffen sie zu.

Eigentlich wäre nun Thomas Haldenwang gefragt. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Nachfolger von Hans-Georg Maaßen hat schließlich selbst festgestellt, dass seine Hauptaufgabe nicht mehr sei, die Verfassung zu schützen, sondern den Staat und dessen politische Institutionen:

„Man kann in diesem Land jede Meinung vertreten, solange man damit nicht die Rechte anderer verletzt oder die Demokratie angreift. Wir können nicht auf Bauchgefühle hören. Wir werden auf den Plan gerufen, wenn das System, der Staat, die Verfassung in Frage gestellt werden, wenn zu Gewalt und zum Widerstand aufgerufen wird“, so beschreibt Haldenwang seinen Job.

Also wäre er nun gefordert, gegen Montgomery vorzugehen. Es ist unzweifelhaft: die Verächtlichmachung eines Gerichts durch den Ärztefunktionär stellt das bundesdeutsche Rechtssystem und damit den Staat infrage. So wäre man nun geneigt, wie einst die Bild zu rufen: „Haldenwang, übernehmen Sie!“

Ein Verfassungsschützer, der die Verfassung nicht kennt

Jedoch, auch das wäre unkorrekt. Und das deshalb, weil eben jener Haldenwang längst den Boden der Verfassung, die zu schützen seine Aufgabe ist, verlassen hat. „Verfassungsschutz“, das sagt bereits die Bezeichnung, ist nicht „Systemschutz“ und nicht „Staatsschutz“. Zumindest nicht in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat mit so etwas wie einer FDGO. Weshalb die DDR auch gleich so ehrlich war, ihren „Verfassungsschutz“ zutreffend als „Staatsschutz“ zu bezeichnen, der dann nicht einmal dieses war, sondern sich als „Schild und Schwert der Partei“ verstand – Abwehrinstrument und Strafjustiz in einem und dieses nicht für den Staat, sondern für ein Gebilde, das sich als diktatorische Elite ein Gemeinwesen angeeignet hatte.

Dem Herrn Haldenwang wäre hingegen anzuraten, selbst einmal einen Blick in jene Verfassung zu werfen, die in der BRD Grundgesetz genannt wird. Dort gibt es einen Artikel 140, welcher wiederum Bezug nimmt auf die Artikel 136 bis 139 und 141 der Weimarer Verfassung von 1919. In Art. 137(7) steht: „Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen.“

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Dort steht nicht, dass politische Weltanschauungen keine Weltanschauungen sind. Folgerichtig müssen politische Weltanschauungen dieselben Rechte haben, wie dieses Religionsgemeinschaften, die eben auch nichts anderes als Weltanschauungen sind, zugewiesen wird. Sie zu schützen ist daher Aufgabe des Verfassungsschutzes selbst dann, wenn sie das Grundgesetz in Gänze oder in Teilen in Frage stellen – es sei denn, sie würden gewaltsam gegen die Freiheitlich Demokratische Grundordnung (FDGO) vorgehen. Und das ist so auch notwendig, wenn die Demokratie diese Bezeichnung verdient haben soll. Denn Demokratie bedeutet notwendig, Kritik am Staat und dessen Institutionen, ja selbst an Artikeln des Grundgesetzes üben zu können, solange dieses auf friedliche Weise im demokratischen Disput erfolgt.

In einer Demokratie, auch das verkennt der Bürokrat Haldenwang, ist es jederzeit zulässig, die Demokratie anzugreifen – solange dieser Angriff auf friedliche Weise der politischen Auseinandersetzung erfolgt. Diese Zulässigkeit ergibt sich nicht nur notwendig aus eben jenem übergeordneten Schutz der politischen Meinung und dem darauf aufbauenden Ringen um den besten Weg – sie ergibt sich auch aus der Tatsache, dass es eine letztgültige Definition von „Demokratie“ nicht gibt und nicht geben kann. Demokratie ist für den einen der friedliche Kampf für eine Gesellschaft freier und gleichberechtigter Bürger, für den anderen der Zwang zur sozialistisch-kollektivistischen Volksbeglückung gleichgemachter Genossen. Welche Demokratie also soll es nun sein, die Haldenwang als unangreifbar definiert?

So ist festzustellen, dass sich der zum Staatsschutz mutierte Verfassungsschutz selbst längst von diesen Grundlagen einer tatsächlichen FDGO meilenweit entfernt hat. Und so findet sich Montgomery dann doch in passabler Gesellschaft von Kreisen, die Ministerien ideologische Fesseln anlegen und den Verfassungsschutz zum Staatssystem- und damit zum Regierungsschutz umwandeln wollen.

Der Trend ist unübersehbar: Der demokratische Diskurs ist nicht nur lästig, sondern gefährlich. Und Gerichte, die es wagen, staatliche Anordnungen in Frage zu stellen, sind Hanswursteleien, die in ihre Schranken verwiesen werden müssen. Da steht Montgomery nun auf der rechten Seite:

Strammgestanden, Augen nach links und im Corona-Gleichschritt Marsch!

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