Sprache ist ein eigenartig Ding. Zumeist dient sie dazu, dass Menschen einander Inhalte mitteilen, die sie in dem jeweils konkreten Moment für mitteilenswert erachten. Allzu häufig verliert sie sich in Belanglosigkeiten. Die Nutzer von Sprache werden zu Plapperern – ergehen sich in dem, was Neudeutsch als „Small-talk“ bezeichnet wird. Gern wird Sprache missbraucht, um damit Sätze zu formulieren, die sich bedeutungsschwanger geben, jedoch bei genauerem Hinschauen sich als inhaltsleere Phrasologie entpuppen. Die Sprache ergeht sich in nichtssagenden Verschleierungen, Andeutungen, Ablenkungen.
Ein Meister dieser Nutzanwendung von Sprache ist Angela Merkel, die sich in Floskeln verliert, welche von ihren Zeitgenossen nur allzu gern als bedeutungsschwer interpretiert werden. Diese Phrasen erhalten dann Bezeichnungen wie „Mahnung“ oder „Appell“. Ihnen ist zumeist eigen, keine konkreten Ziele oder Perspektiven zu beschreiben, sondern eher indifferenten Bauchgefühlen den Weg an die Öffentlichkeit zu bahnen. Jüngstes Beispiel solcher Phrasendrescherei fand sich in der Regierungserklärung der Frau Bundeskanzler anlässlich der Lockerungen der Eingriffe in die individuellen Freiheitsrechte anlässlich der Gefahr einer Corona-Pandemie.
Merkel „mahnte“, verzichtete jedoch wohlweislich auf eigene konkrete Vorschläge des Vorgehens. Und dieses nicht nur, weil dieses im föderalistischen Aufbau der Republik nicht in ihre Obliegenheiten fällt, sondern weil sie damit ein anderes Ziel verfolgt. Denn sollte die partielle Rückkehr zu dem, was gern als Normalität bezeichnet wird, negative Konsequenzen zeitigen, so ist sie fein raus. Ganz im Sinne eines Pontius Pilatus kann sie dann ihre Hände in öffentlicher Unschuld waschen, als Mahnende ihre seherischen Fähigkeiten sowie die „Schuld“ anderer unterstreichen.
Sollten hingegen die in der „Mahnung“ versteckten Befürchtungen nicht Realität werden, so vermag sie sich ohne Konsequenzen für das eigene Ansehen auf die bloße Rolle der „Mahnenden“ zurückzuziehen. Es hätte ja auch anders kommen können – mehr noch: Nur und ausschließlich ihrer „Mahnung“ sei es geschuldet, dass manche „Übertreibungen“ unterblieben. Die Schwafelnde ist mit ihrer Phrasologie folglich immer auf der Gewinnerseite – es ist die klassische Verschwendung von Sprache, mit der bereits in der Antike die Orakel sicherstellten, immer auf der sicheren Seite zu sein.
Sprache als Interpretationsinstrument
Gern wird Sprache auch verwendet, um Sachfeststellungen in ihren Inhalten zu verändern, zu verkehren. Die bereits klassischen Beispiele erleben wir derzeit einmal mehr mit Blick auf die jüngere Geschichte. Dieser Tage jähren sich die Monate April und Mai des Jahres 1945 zum 75. mal. Solche „Jubiläen“ werden selbst dann, wenn es wenig zu „jubilieren“ gibt, gern genutzt, um historische Tatsachen in einen ideologisch geprägten Kontext einzubinden. Die neudeutsche Sprache hat hierfür den Begriff „Narrativ“ eingeführt. Altdeutsch können wir dieses hübsche, weil so wunderbar vom eigentlichen Kerngehalt ablenkende Narrativ als „Erzählung“ – etwas mehr im mittelalterlichen Denken verfangen auch als „Märchen“ – übersetzen. Manche dieser Märchen mögen belanglos erscheinen. Andere verfolgen sehr konkrete Ziele. Deshalb macht es Sinn, sich ein paar dieser Erzählungen etwas genauer zu betrachten.
Die „Befreiung von Konzentrationslagern“
Nebst anderen Exzessen einer kollektivistischen Ideologie, in die die Deutschen nach der verlorenen imperialen Größe und dem wirtschaftlichen Niedergang ihre Hoffnung gesetzt hatten, gehören die sogenannten Konzentrationslager zu den menschenverachtendsten Instrumenten der nationalen Sozialisten. Das Konzept hatten sie von den Briten und vom russischen Usurpator Lenin übernommen. Die Engländer hatten sie in ihrem Krieg gegen die Holländer im südlichen Afrika erstmals eingesetzt, der Kommunist sie zum Instrument seiner Herrschaft gemacht. Als im letzten Kriegsjahr 1944/45 die Alliierten ihren Siegeszug durch die vom Deutschen Reich besetzten Gebiete antraten, besetzten sie auch diese Lager.
Doch befreiten sie diese? Kann man Dinge befreien – und wenn ja – von was? Nein, die deutsche Sprache zeichnet sich durch eine erstaunliche Präzisionsfähigkeit aus. Befreit wurden nicht „die Lager“ – befreit wurden jene Menschen, die von dem unmenschlichen Regime in diese Lager gesperrt worden waren. Die Floskel von der „Befreiung der KZ“ ist insofern unzutreffend. Befreit wurden die Menschen, die in diesen Lagern um ihre Freiheit, ihre Zukunft, ihr Leben gebracht werden sollten. Gleichwohl: Auch wenn die Floskel in der Sache unzutreffend ist, mag man sie noch akzeptieren, um das Ende des Leides der Insassen damit zu beschreiben. Unzutreffend bleibt sie dennoch. Dabei ist sie im Ergebnis mehr, als nur eine beschreibende Floskel. Denn sie verbindet diese eine Folge eines erbarmungslos geführten Krieges nicht mit dem zutreffenden Begriff der Übernahme, sondern mit Befreiung. Aus dem Kriegsakt der Übernahme wird ein Akt der Befreiung. Nicht aber der Befreiung der tatsächlichen Opfer – sondern der Befreiung einer Sache.
„Am 8. Mai endete der Zweite Welkrieg“
Diese Floskel werden wir dieser Tage immer wieder hören. Dabei gilt: Nichts könnte falscher sein. Zum einen ging der Krieg im Pazifik noch einige harte Monate weiter. Doch zum anderen trifft die Aussage auch auf den europäischen Kriegsschauplatz nicht zu. Denn am 8. Mai 1945 erklärte lediglich die Deutsche Wehrmacht gegenüber dem Oberkommandierenden der Alliierten in Europa, dem späteren US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower, im lothringischen Reims die bedingungslose Kapitulation eben dieser Wehrmacht. Der Kapitulations-Befehl erfolgte in Abstimmung mit der seit dem 5. Mai amtierenden Reichsregierung unter Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigk.
Für diese nun in Schleswig-Holstein tagende und laut geltendem Völkerrecht legitime Regierung entsprach die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht einer unbefristeten Waffenruhe. Aus ihrer Sicht hatten nun die Waffen zu schweigen und die Kriegsgegner in Verhandlungen über einen dauerhaften Waffenstillstand und eine Nachkriegsordnung einzutreten, wobei der Reichsregierung bewusst war, dass die Siegermächte nach Belieben ihre Bedingungen diktieren konnten. Tatsächlich jedoch nutzten die Alliierten unter Bruch des Kriegsrechts den faktischen Zusammenbruch der Verteidigungsfähigkeit der Wehrmacht zum weiteren Vormarsch. Am 23. Mai 1945 dann nahmen die Alliierten das Kabinett Schwerin von Krosigk in Gewahrsam und stellten deren Mitglieder mit Verzug vor ein Militärtribunal. Mit diesem Akt setzten die Siegermächte die legitime Reichsregierung völkerrechtswidrig ab – eindeutig und unzweifelhaft ein gegen einen zu diesem Zeitpunkt zwar handlungsunfähigen, aber immer noch im Sinne des Völkerrechts souveränen Staat gerichteter Kriegsakt. Mit dieser Kriegshandlung liquidierten die Siegermächte das 1871 gegründete Deutsche Reich und wandelten Reichsgebiete in entsprechende Protektorate unter alliierter Hoheit um.
Wenn das Kriegsende in Europa – nicht das des Weltkrieges – überhaupt an einem Datum festgemacht werden kann, dann ist dieses der 23. Mai 1945, da zu diesem Zeitpunkt durch die Inhaftierung der Regierung das kriegführende Völkerrechtobjekt „Deutsches Reich“ aus der Geschichte expediert wurde. Ohne Kriegsgegner kein Krieg. Weshalb mit dem 23. Mai 1945 auch Friedensverhandlungen obsolet wurden: Das Schicksal der ehemals als Bürger des Deutschen Reichs zu verstehenden, nun staatenlosen Deutschen hing ab diesem Datum vom Wohl und Wehe der Sieger ab.
„Am 8. Mai ist das Dritte Reich untergegangen“
Diese gern verbreitete Behauptung ist schlicht und einfach falsch allein schon deshalb, weil es ein „Drittes Reich“ zu keinem Zeitpunkt gegeben hat. Dieses „Dritte Reich“ war eine Propagandalüge der nationalen Sozialisten – klassisches Framing im Sinne der Durchsetzung der eigenen Ideologie. Da jedoch die Weimarer Reichsverfassung unabhängig davon, dass sich Hitler und seine Schergen für diese nicht mehr interessierten, zu keinem Zeitpunkt außer Kraft und/oder durch eine andere ersetzt worden war, hieß der deutsche Staat auch 1945 immer noch „Deutsches Reich“ – und auch nicht „Großdeutsches Reich“, obgleich durch den Beitritt Deutschösterreichs die großdeutsche Idee von 1848 Realität geworden zu sein schien. Was aber nicht ist, kann auch nicht untergehen.
Dieses gilt gleichermaßen für alle anderen Versuche, eine Trennung zwischen Deutschland, Deutschem Reich und der Phase der NS-Diktatur herbeizudichten. Trauriges Faktum bleibt, dass Hitler die Macht auf legalem Wege erreicht, der Reichstag als Bürgervertretung den Ermächtigungsgesetzen mit Mehrheit zugestimmt und die Bürger in einer Volksbefragung mit deutlicher Mehrheit der Zusammenlegung von Reichspräsidentschaft und Reichskanzleramt zugestimmt hatten. Insofern gab es auch kein „Hitlerdeutschland“ oder „NS-Reich“ – der Staat, dessen Macht sich die NSDAP erschlichen hatte, blieb bis zum bitteren Ende das Deutsche Reich. Tatsache allerdings ist, dass am 8. Mai durch die normative Kraft des Faktischen die Macht der NSDAP implodierte. Fakt bleibt aber auch: Weder NSDAP noch Hitler waren Deutschland. Sie hatten dieses Land lediglich unter ihre Kontrolle gebracht und in den Untergang geführt.
„Dönitz war Reichpräsident“
Karl Dönitz, zuletzt Oberbefehlshaber der Reichsmarine, war von Adolf Hitler in einem sogenannten „Testament“ zu seinem Nachfolger ernannt worden. Manch einer zieht daraus den Schluss, Dönitz sei der letzte Reichspräsident gewesen. Faktisch jedoch ist dieses nicht der Fall. Denn die zu keinem Zeitpunkt per Rechtsakt außer Kraft gesetzte Reichsverfassung sah eine „Erbpräsidentschaft“ nicht vor. Es spricht für die Hybris des Braunauers bis in den Tod, die Auffassung zu vertreten, er selbst könne seinen Nachfolger in der propagandistisch „Führer“ genannten Doppelfunktion von Reichspräsident und Reichskanzler bestimmen. In staats- wie verfassungsrechtlichem Sinne jedoch konnte er es nicht – vielmehr ist diese Anmaßung nichts anderes als ein Akt des Hochverrats.
Tatsächlich hat sich Dönitz selbst auch nie in dieser Funktion gesehen, allerdings dem Kabinett Schwerin von Krosigk gleichsam als Vertreter des Militärs gedient. Anders kann es auch nicht sein, da laut geltender Verfassung mit dem Amt des Reichskanzlers und/oder des Reichspräsidenten diese Ämter bis zur legalen Neubesetzung vakant bleiben mussten. Insofern ist auch Schwerin von Krosigk nicht als Reichskanzler aufgetreten, sondern als einziger Minister, der noch aus der Weimarer Epoche stammte, vom Kabinett in Mürwik bestimmt als „leitender Minister“ tätig gewesen – eine Position, wie sie sich bis 1997 beispielsweise im Stadtstaat Hamburg fand, in der der Erste Bürgermeister als „primus inter pares“ von den Ministern/Senatoren bestimmt wurde.
„Das Deutsche Reich besteht fort“
Sogenannte Reichsbürger behaupten unverdrossen den Fortbestand des Deutschen Reichs, da es keinen formalen Auflösungsbeschluss gegeben hat. Nur wurde ein solcher durch die Alliierten selbst verunmöglicht und ersatzweise durch die Inhaftierung der Regierung und die Protektoratsgründungen vollzogen. Mit der Übernahme der Regierungsgewalt durch den Alliierten Kontrollrat am 5. Juni 1945 und der Überführung des Reichsgebiets in „Verwaltungszonen“ genannte Protektorate wurde das Deutsche Reich Geschichte. Eines formellen Auflösungsbeschlusses bedurfte es allein schon deshalb nicht, weil es keine staatsrechtliche Instanz mehr gab, die ihn hätte beschließen und exekutieren können.
Ein amtierender Reichstag als repräsentative Bürgervertretung hatte sich mit dem Ermächtigungsgesetz am 24. März 1933 faktisch verabschiedet. Mit der Übernahme der Staatsgewalt durch die Alliierten war auch dieses Scheinparlament, welches einzig den Auflösungsbeschluss hatte fassen können, aus der Geschichte. Die Wahl eines neuen, dann legitimen Reichstages ist zu keinem Zeitpunkt erfolgt. Das Ende des Reichs besiegelten insofern die Siegermächte – und es entstand auch nicht neu dadurch, dass 1949 auf den verbliebenen Resten des Reichsterritoriums in den Grenzen von 1933 zwei neue deutsche Klientelstaaten aus der Taufe gehoben wurden.
Der dritte Nachfolgestaat des Deutschen Reichs erklärte bereits am 27. April 1945 in einer Unabhängigkeitserklärung seine Separation von jenem Reich, dem es per Beschluss der Österreichischen Bundesregierung am 13. März 1938 im Sinne der Beendigung der Republik Österreich völkerrechtsverbindlich beigetreten war. Der österreichische Nachkriegsversuch, die Phase als „Ostmark“ des Reichs zwischen 1938 und 1945 für „null und nichtig“ zu erklären, ist zwar politisch verständlich, staatsrechtlich jedoch ohne Bedeutung. Die erste Österreichische Republik endete 1938. 1945 erfolgte eine staatliche Neugründung als erster der drei Nachfolgestaaten auf dem Boden des untergegangenen Deutschen Reichs.
„Die Bundesrepublik Deutschland ist völkerrechtlich identisch mit dem Deutschen Reich“
Geltende und ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besagt: Die 1949 gegründete Bundesrepublik ist nicht Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs, sondern mit diesem völkerrechtlich identisch. Einen entsprechenden Beschluss fasste das höchste deutsche Gericht 1973 in Hinblick auf die seinerzeit diskutierten Ostverträge. Politisch war diese Entscheidung nachvollziehbar: Sie beschrieb die bundesdeutsche Position des Alleinvertretungsanspruchs gegenüber dem russischen Klientelstaat DDR – das BVerfG agierte folglich politisch.
Dennoch steht diese bis heute geltende Rechtsauffassung in deutlichem Widerspruch nicht nur zum konkreten Vorgehen der Alliierten ab 1945 mit der bereits dargelegten Absetzung und Inhaftierung der nach wie vor völkerrechtlich legitimen Reichsregierung sowie der Einrichtung von Protektoraten auf dem Boden des Reichs. Tatsächlich belegt auch das spätere Handeln der Bundesregierung ebenso wie der Alliierten den Untergang des Deutschen Reichs.
Unter dem Aspekt des Fortbestands des Reichs wären beispielsweise die sogenannten 2+4-Verhandlungen ebenso unnötig gewesen wie der Volkskammerbeschluss zum Beitritt der Länder der DDR zur Bundesrepublik. Gregor Gysi stellte seinerzeit zutreffend fest, die Volkskammer habe nichts anderes als das Ende der DDR beschlossen. Spätestens durch den Einstieg in die 2+4-Verhandlungen hatten die BRD wie die Siegermächte faktisch die Eigenstaatlichkeit der sozialistischen Staatsgründung anerkannt – andernfalls wären die „neuen“ Länder zwangsläufig in der BRD als Deutsches Reich auch ohne völkerrechtsverbindliche Verhandlungen und Verträge aufgegangen.
Deutlich wurde das finale Ende des Deutschen Reichs auch durch die Handhabung von Rechtsansprüchen deutscher Bürger durch die Bundesrepublik hinsichtlich enteigneter Immobilien. Soweit diese Enteignungen durch die Siegermächte – beispielsweise die Sowjetische Militäradministration – auf dem Boden der von ihnen errichteten Protektorate erfolgt war, wies die Bundesregierung jegliche Regressansprüche mit eben genau dem entsprechenden Hinweis auf die damalige Situation kategorisch von sich. Damit anerkannte die Bundesrepublik den Protektoratsstatus nach dem Untergang des Deutschen Reichs – womit die behauptete Reichsidentität ad absurdum geführt wurde.
Bedeutsam ist diese Tatsache auch hinsichtlich gelegentlich aufgestellter Reparationsforderungen beispielsweis durch Griechenland oder Polen, aber auch durch jene afrikanischen Völker, die vor den Deutschen als von Norden kommende Invasoren zu Lasten der dortigen Urbevölkerung das heutige Namibia besiedelten. Völkerrechtlich waren solche Forderungen durch die Protektoratsmächte unter Einsatz von diesen verwalteten Eigentums des untergegangenen Staates zu bedienen – nicht aber beispielsweise durch Privateigentum ehemaliger Bürger des Reichs. Auch hier ist die Position der Bundesregierung bis heute in sich unschlüssig, da sie zwar derartige Forderungen zurückweist, gleichzeitig aber die Reichsidentität aufrecht zu erhalten sucht.
Unbenommen davon sind unabhängig der völkerrechtlichen Situation Beschlüsse des Parlaments, entsprechenden Ansprüchen durch freiwillige Wiedergutmachungen entgegen zu kommen – wie dieses beispielsweise hinsichtlich des Staates Israel erfolgte. Hinzuweisen ist hier auch auf die Rechtsposition beispielsweise Russlands, welches unter Hinweis auf die Niederlage des Deutschen Reichs die „Rückgabe“ des „Schatz des Priamos“ verweigert. Auch diese Position wird nur nachvollziehbar, wenn die Protektoratssituation – und damit das Ende des Deutschen Reichs als Völkerrechtsobjekt – als Tatsache akzeptiert wird. Ähnliches gilt hinsichtlich sogenannter Raubkunst, die durch Vertreter des Reichs aus dem Besitz der ursprünglichen Eigentümer entfernt wurde.
Die Bundesrepublik kann solche Raubkunst zwar im Sinne einer moralischen Verpflichtung zurückgeben – ein Rechtsanspruch darauf besteht jedoch nicht, soweit der Raub durch staatliche Stellen des Reichs erfolgt ist. In solchen Fällen liegt die juristische Verantwortung bei den Protektoratsmächten, welche wiederum eine entsprechende Rückgabe bei den drei Nachfolgestaaten des Reichs hätten einfordern und mit dem Ende der Protektorate als Verpflichtung der neu gegründeten Staaten vertraglich hätten festschreiben können.
Dem festzustellenden Untergang des Deutschen Reichs entsprechend hatten die Siegermächte im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 – also gut zwei Monate, nachdem sie das Deutsche Reich zu Grabe getragen hatten – folgende Feststellungen getroffen: „Alliierte Armeen führen die Besetzung von ganz Deutschland durch, und das deutsche Volk fängt an, die furchtbaren Verbrechen zu büßen, die unter der Leitung derer, welche es zur Zeit ihrer Erfolge offen gebilligt hat und denen es blind gehorcht hat, begangen worden. … Der deutsche Militarismus und Nazismus werden ausgerottet, und die Alliierten treffen nach gegenseitiger Vereinbarung in der Gegenwart und in der Zukunft auch andere Maßnahmen, die notwendig sind, damit Deutschland niemals mehr seine Nachbarn oder die Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt bedrohen kann.“
„Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung der Deutschen vom Nationalsozialismus“
Diese Erzählung, die uns aktuell allenthalben begegnet, wurde vom damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Jahr 1985 erfunden. Unbestritten ist, dass die militärische Niederlage der Wehrmacht zur Befreiung der vom Reich besiegten Länder und Völker ebenso führte wie der in deutschen Lagern widerrechtlich inhaftierten KZ-Insassen und Kriegsgefangenen. Auch mag die finale Niederlage für manch einen Bürger des Deutschen Reichs, der sich in Opposition zur national-sozialistischen Herrschaft befand, als Befreiung empfunden worden sein. Tatsache bleibt gleichwohl, dass der 8. Mai 1945 von der überwiegende Mehrheit der Bürger des Reichs nicht als Befreiung empfunden wurde, sondern als das, was er war: Ein Tag der die Kriegshandlungen weitgehend beendenden Niederlage.
Nicht nur für jene Deutschen, die in der Folge aus ihren Siedlungsgebieten zwangsausgesiedelt oder sogar getötet wurden, hatte der 8. Mai mit Befreiung nicht das Geringste zu tun. Auch jene Frauen, die in Folge der Besetzung des Reichs vergewaltigt wurde, muss die Floskel der „Befreiung“ blanker Zynismus sein. Ob der Übergang von der Diktatur der Deutsch-Nationalen zur Diktatur der Sowjet-Sozialen für die Deutschen auf dem Boden der Beitrittsländer als Befreiung enpfunden wurde, darf ebenfalls bezweifelt werden. Von jenen Soldaten, die beispielsweise in den Rheinauen in Freiluftlagern konzentriert oder auch Zivilisten, die willkürlich nach Russland verschleppt wurden, soll hier gar nicht die Rede sein.
Dennoch wurde das Weizsäcker-Narrativ begierig aufgegriffen und wird bis heute sorgsam gepflegt, denn endlich konnten jene, die teilweise selbst noch Verantwortung für durch das Reich begangene Verbrechen trugen, mehr noch aber jene Nachgeborenen, die keine persönliche Schuld auf sich geladen hatten, jedoch in der moralischen Verantwortung für die im Namen ihres Volkes begangenen Taten standen, sich vom Tätervolk zum Opfervolk umdichten.
Die Tatsache, dass das Regime Hitlers trotz irregulären, innenpolitischen Drucks letztlich verfassungsgerecht die Macht an sich gerissen hatte und den Umbau zu einer totalitären Regierungsform mit deutlicher Bürgermehrheit unterstützt wurde, welche deshalb auch bis zum Ende und teilweise sogar nach dessen Selbstmord „dem Führer“ die Treue hielt, konnte endlich ausgeblendet werden. Das Narrativ vom Opfervolk wird seitdem auch dadurch gepflegt, dass jene Propagandabegriffe, die von den nationalen Sozialisten selbst oder von den Siegermächten erfunden worden waren – beispielhaft seien hier Begriffe wie „Drittes Reich“, „Nazideutschland“ oder „Hitlerreich“ genannt – in jenen fast schon inflationär verbreiteten Dokumentationen statt des juristisch korrekten Begriffs „Deutsches Reich“ genutzt werden.
Weder gab es ein „Drittes Reich“, noch ein „Nazideutschland“, noch ein „Hitlerreich“. Das Völkerrechtsobjekt, welches ab 1933 von den nationalen Sozialisten autoritär regiert wurde, welches Teile der eigenen Bevölkerung gezielt ausgrenzte und ermordete und welches im Namen der Deutschen ab 1939 die Katastrophe über Europa brachte, war bis zu seinem Ende das „Deutsche Reich“ auf der Grundlage der niemals außer Kraft gesetzten Verfassung von Weimar.
Als Bundestagspräsident Philipp Jenninger am 10. November 1988 den Versuch unternahm, das Weizsäcker-Narrativ ins korrekte Licht zu rücken, wurde er gleichsam öffentlich hingerichtet. Offensichtlich ist es für die Nachgeborenen leichter, die Zeit zwischen 1933 und 1945 als etwas zu interpretieren, das völlig ohne jegliches Zutun der deutschen Bevölkerung gleich einer Alien-Invasion über diese gekommen ist, als sich der Tatsache zu stellen, dass die Machtübernahme die Folge eines Prozesses war, der nach der Demütigung durch die Siegermächte des Krieges von 1914 bis 1918 durchaus historischer Logik entspricht und nur verstanden werden kann, wenn er in seinem historischen Kontext begriffen wird.
Weizsäcker aber gab mit seiner Erzählung dem Volk die Chance, sich aus der moralischen Verantwortung für jene Katastrophe zu schleichen, statt das zu tun, was einzig angemessen wäre: Dem deutschen Volk zu erklären, dass es eine grundlegende Verantwortung dafür trägt, totalitäre Entwicklungen nie wieder zuzulassen, gleich ob sie von rechts oder von links kommen, gleich ob sie für das Wohl einer angeblich höherwertigen Volksgemeinschaft oder anderer, ideologisch begründeter Motive wie der Herrschaft der Arbeiterklasse, eines angeblichen Gottes oder auch „des Klimas“ alternativlos seien. Diese Verantwortung liegt als unverzichtbare Konsequenz jener Jahre des Terrors auf jedem Deutschen – und sie hat nichts damit zu tun, dass zumindest die nach 1930 Geborenen kaum in der Lage gewesen sind, politische Verantwortung für das deutsche Reichshandeln ab 1933 zu tragen oder gar persönliche Schuld haben auf sich laden können.
Bei allem Gedenken die Tatsachen im Auge behalten
Wenn dieser Tage nun zahlreiche Narrative den 75. Jahrestag der militärischen Kapitulation begleiten, sollten diese den Bick auf die Tatsachen trotz aller öffentlich vorgetragenen Erzählungen nicht verstellen. Wer Fehler und Verbrechen der Geschichte nicht wiederholen will, muss sich dieser Fehler bewusst sein und sich den Tatsachen stellen. Das Verschleiern dieser Tatsachen dient diesem nicht – es bereitet ganz im Gegenteil den Boden dafür, dass sich solche Fehler und Verbrechen wiederholen können. Wer die eigene Verantwortung ausblendet, der öffnet die Tür in die Verantwortungslosigkeit. Nicht nur die Alliierten, die, wie immer in der Geschichte, als Sieger maßgeblich diese schrieben; nicht nur die Politiker, die aus politischen Motiven schnell bereit waren, von den Fakten abweichende Erzählungen als vorgebliche Verfassungsgrundlage festzuschreiben – vor allem der bis heute gefeierte Weizsäcker trägt die Verantwortung dafür, wenn die von ihm vom Täter- zum Opfervolk umgeschriebenen Deutschen ein weiteres Mal die Errungenschaften einer freien und selbstbestimmten Demokratie gegen das Diktat eines autoritären Staates tauschen sollten.