Endlich haben unserer Politiker wieder etwas zum Feiern: Vor 100 Jahren wurde im Thüringischen Weimar für das seit 1871 bestehende Deutsche Reich eine neue Verfassung verabschiedet. Wie landauf, landab zu vernehmen ist, war dieses die Geburtsstunde der „ersten deutschen Demokratie“. Nichts aber ist falscher als diese Behauptung, die lediglich dem Zweck dient, den allgegenwärtigen Kulturkampf gegen die bürgerliche Republik zu legitimieren.
Von der Demokratie
Demokratie verfügt bedauerlicherweise über keine unanfechtbare Definition. Angeblich wurde sie im antiken Griechenland erfunden, welches deshalb vielen Europäern auch heute noch als eben deren Wiege gilt. Tatsache ist: Die Griechen hatten – wie zahlreiche andere Völker jener Zeit auch – Verfahren der Mitsprache bei Staatsangelegenheiten entwickelt. Anders als jene anderen dieser Zeit jedoch schrieben die Griechen ihre entsprechenden Konzepte und Vorstellungen auf. So konnte die Nachwelt diese Überlegungen nachvollziehen und zu der bis heute geltenden Auffassung gelangen, die Hellenen wären die Erfinder der Demokratie.
Tatsächlich hatten die Denker und Staatslenker jener Zeit recht klare Vorstellungen, wie die Mitsprache zu regeln sei. Vor allem aber definierten sie, wer überhaupt mitspracheberechtigt sein dürfe, und schrieben dafür ein in sich logisches Prinzip fest. In der griechischen Demokratie durfte nur mitentscheiden, wer zum einen eigenverantwortlicher Bürger des jeweiligen Staatswesens war, zum anderen mit seinen Möglichkeiten und seinem Vermögen dem Staat diente und an dessen Fortschritt mitwirkte. Entsprechend der damals und bis in das frühe 20.Jahrhundert üblichen Arbeitsteilung schieden damit die Frauen aus. Ebenfalls kein Mitspracherecht hatten jene, die seinerzeit als Sklaven maßgeblich für das Erbringen der Arbeitsleistung zuständig waren, jedoch mangels Einkommen und Bürgerrechten eben nicht als mitspracheberechtigte Demokraten einbezogen wurden. Gäste, also Personen aus anderen Gemeinwesen, die in der Polis vorübergehend oder dauerhaft ihren Aufenthalt hatten, waren als Nicht-Bürger ebenfalls vom demokratischen Entscheidungsfindungsprozess ausgeschlossen.
Was benötigt eine Demokratie?
Gemäß aktuellem Demokratie-Narrativ war daher jene griechische Demokratie alles andere als demokratisch. Und doch mag man gewillt sein, jenem klassischen Demokratieansatz, bei dem „demos“ nicht einfach für „Volk“, sondern für „Staatsvolk“ stand und dessen gemeinwohldienliche Logik außer Frage steht, als Wiege der Moderne zu betrachten. Denn wenn es das Ziel von Staatskunst sein soll, das Wohl des Staates und seiner Bürger zu mehren, spricht manches dafür, an dessen Führung nur jene zu beteiligen, die durch ihre Leistungsbereitschaft selbst ihren Beitrag für dessen Wohlergehen erbringen, statt der Versuchung zu unterliegen, das Gemeinwohl mit Individualwohl zu verwechseln und die staatlichen Ressourcen als Selbstbedienungsladen zu missbrauchen. Schließlich ermahnte selbst gut zweitausend Jahre nach den Hellenen ein US-Präsident namens John Fitzgerald Kennedy seine Bürger: „Fragt nicht, was euer Land für Euch tun kann – fragt, was Ihr für Eurer Land tun könnt!“.
Das griechische Demokratieprinzip sollte gleichwohl zumindest im westlichen Europa selbst im Mittelalter niemals ganz verschwinden. Es fand sich in Stadtrepubliken ebenso wie bei Kaiserwahlen. Zur Entscheidung antreten durften jene, denen eine gesellschaftliche Mitverantwortung am jeweiligen Wahlgegenstand zugewiesen wurde. Dass dabei große Teile der Wohnbevölkerung nicht teilhaben durften, ist jenes, was heute als „undemokratisch“ bezeichnet wird. Wobei auch unsere hochgelobte Demokratie nicht anders verfährt, indem sie das Wahlrecht als Mitsprachemöglichkeit beispielsweise Bürgern unter 18 Jahren nicht zubilligt. Befürworter dieser Ausgrenzung führen dafür kaum andere Argumente ins Feld wie jene, die Frauen, Sklaven, Bürger, Arbeiter oder sonst welche Gruppen aus den Entscheidungsprozessen ausschlossen. Demokratie – diese Lehre können wir aus ihrer über 2000-jährigen Geschichte ziehen – liegt letztlich immer in der Definition ihrer Demokraten. Denn selbstverständlich hielt sich ein Aristoteles, der Frauen und Slaven ausschloss, für einen Demokraten. Und auch der hanseatische Kaufmann, dem das Bürgerrecht und seine Lebensleistung die Mitsprache am Staatsgeschehen einräumte, bewegte sich hier in einem demokratischen System, denn er war Teil jenes „demos“, des Staatsvolkes.
Die Idee, alle Bürger zu beteiligen
Im Europa des Spätmittelalters und der Neuzeit dann reifte die Idee, alle Staatsbürger an der Staatenlenkung teilhaben zu lassen. Da in den viele Millionen Menschen umfassenden Gemeinwesen der altgermanische Tingplatz nicht mehr zu realisieren war, entwickelten kluge Denker das Modell der Repräsentanz. Das Volk, nunmehr gedacht als alle mündigen Staatsbürger unabhängig davon, ob sie aktiv zum Staatswohl beitrugen oder von diesem alimentiert werden mussten, sollten in freien und geheimen Wahlen ihre Vertreter in das Parlament entsenden. Diese waren dann rechenschaftspflichtig gegenüber ihren Wählern – und diese konnten beim nächsten turnusmäßigen Wahlgang den Daumen heben oder senken.
Dieses, den Bürger repräsentierende Demokratiemodell kam nun auch in Deutschland eine Zeit lang zum Einsatz. Und es hatte seine Geburtsstunde – anders, als heute in geschichtsrevisionistischer Absicht vorgetragen – eben nicht erst 1919, sondern bereits 1871. In jenem heute ebenso fälschlich als „Kaiserreich“ bezeichneten Bundesstaat, dessen verfassungsmäßiger Präsident der jeweils amtierende König Preußens war, wurde für das Reich in Artikel 20 der Verfassung festgeschrieben:
„Der Reichstag geht aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung hervor.“
Wir sehr darauf geachtet wurde, dass dieses demokratische Prinzip gewährleistet war, kann erkennen, wer einen Blick in die Protokolle der jeweils ersten Reichstagssitzungen wirft. Dort wurde jeder Beschwerde eines Verstoßes nachgegangen – wenngleich es in einer Demokratie von dieser Größe tatsächlich nicht viele waren. Festzuhalten bleibt: Die Verfassung von 1871 schrieb ein demokratisches Wahlrecht fest – und dieses wurde gewährleistet. Es hatte aus heutiger Sicht nur einen Makel: Frauen durften noch nicht mitentscheiden. Wenn dieses jedoch die Begründung sein soll, dem Bundesstaat Deutsches Reich die Demokratie abzusprechen, dann gab es weltweit vor dem Ende des Krieges 1914/18 keine einzige Demokratie. Auch keine antike griechische oder römische.
Mehr Demokratie als heute
In mancherlei Hinsicht war das Deutsche Reich hinsichtlich des Wahlrechts sogar deutlich demokratischer als die heutige Bundesrepublik. Denn tatsächlich entschieden die Bürger unmittelbar, wer zu den festgeschriebenen 392 Abgeordneten gehörte. Die junge Bundesrepublik dann nahm den Bürgern Teile dieses Rechts, indem es die Hälfte des Parlaments über sogenannte Listen durch die Parteien besetzen ließ. Die wahlberechtigten Bürger durften bei 50 Prozent der künftigen Parlamentsbesetzung zwar darüber entscheiden, mit wie vielen Abgeordneten die Parteien künftig dort vertreten sein würden – jeder zweite Volksvertreter war aber ein Parteienvertreter, an dessen Aufstellung der Bürger in undemokratischer Weise nicht beteiligt wurde. Die unvermeidbare Folge war der Umbau der repräsentativen Demokratie in einen demokratischen Parteienstaat.
Wenn nun schon das Wahlsystem mit dem zeitüblichen Makel der Ausgrenzung weiblicher Bürger demokratischer war als jenes der Bundesrepublik – lassen sich dann andere Argumente finden, diesem deutschen Bundesstaat die Demokratie abzusprechen?
Der Kaiser als Sonnenkönig?
Gern wird hierfür die Position des Kaisers angeführt. Der – so die Legendenbildung – sei eine Art Sonnenkönig von eigenen Gnaden gewesen, welcher allein nach eigenem Gutdünken die Geschicke des Staates zu verantworten hatte.
Doch auch diese Behauptung können wir getrost in das Reich des linken Kulturkampfes verbannen. Denn zwar koppelte die Verfassung von 1871 in Artikel 11 das Amt des Präsidenten des Bundes, welches wir heute als Bundespräsidentenamt kennen, nicht an eine Wahl, sondern an das Amt des Königs des größten Bundeslandes namens Preußen – doch wenn dieses allein ausreicht, einer Demokratie dieses Prädikat abzusprechen, dann sind Schweden, Spanien und das Vereinigte Königreich bis heute keine Demokratien. Also muss es für die Behauptung, das 1871 gegründete Reich sei keine Demokratie gewesen, andere Kriterien geben. Und im Übrigen sei darauf verwiesen, dass beispielsweise der amtierende Bundespräsident in einem Gremium von nur drei Personen ausgekungelt worden ist. Das Abnicken der von diesen undemokratisch getroffenen Entscheidung durch die von den Parteien gestellten Wahlmänner (und –frauen) ist im Parteienstaat letztlich nicht demokratischer als die Kopplung des Präsidentenamtes an einen Monarchen als obersten Repräsentanten des Staates.
Das Kanzleramt undemokratisch?
Gern wird nun die vorgeblich undemokratische Besetzung des Kanzleramtes angeführt. Tatsächlich sah die erste deutsche Demokratie hierfür einen heute unüblichen Weg vor. Artikel 18 schrieb fest, dass die „Reichsbeamten“ vom Kaiser als Präsidenten des Bundesstaates ernannt werden. Da 1871 auch der Kanzler nichts anderes als der oberste Reichsbeamte war, er also ausschließlich die dienende Funktion der Exekutive zu erfüllen hatte, entspricht dieses Vorgehen uneingeschränkt dem klassischen Prinzip der strikten Gewaltenteilung, wie es von Locke und Montesquieu entwickelt worden war.
Die parlamentarische Demokratie ging davon aus, dass jedweder Interessenskonflikt zwischen den unterschiedlichen Trägern staatlicher Gewalt zu vermeiden sei. Deshalb sollte das Parlament keinen Einfluss auf die Besetzung der Verwaltung nehmen – und umgekehrt die Verwaltung nicht durch Personalverknüpfungen direkten Einfluss auf die Entscheidungen des Reichstags nehmen können. Wenn also die Prinzipien der beiden genannten Vordenker der modernen Demokratie eben solche sind, dann ist auch Artikel 18 kein Beleg dafür, dass das Deutsche Reich von 1871 undemokratisch gewesen ist. Ganz im Gegenteil muss man ihm zubilligen, dass es in Sachen Gewaltenteilung deutlich konsequenter gewesen ist, als der demokratische Parteienstaat. So schrieb Artikel 21 fest, dass jemand, der ein besoldetes Staatsamt innehatte oder übernahm, nicht Mitglied des Reichstags sein durfte. Die Gewaltenteilung war insofern oberstes Gebot der ersten deutschen Demokratie – und das macht durchaus Sinn, denn in einer funktionierenden Demokratie ist es die wichtigste Aufgabe des Parlaments, unabhängig die Exekutive zu kontrollieren. Wer sowohl Parlamentarier als auch Mitarbeiter der zu kontrollierenden Verwaltung ist, kann dieses nicht gewährleisten, denn er ist gezwungen, sich selbst zu kontrollieren.
Den demokratischen Parteienstaat allerdings interessiert dieses Gebot nicht: Selbst zahlreiche Minister sind Abgeordnete jenes Parlaments, welches die Aufgabe hat, sie zu kontrollieren. Auch wurde mit dem Amt des Parlamentarischen Staatssekretärs eine Position geschaffen, welche der Gewaltenteilung uneingeschränkt konträr gegenüber steht: Ein Abgeordneter, der gleichzeitig ohne Wahllegitimation zum Regierungsmitglied wird. Ein solches Verfahren als demokratisch zu bezeichnen, bedarf tatsächlich einer sehr speziellen Definition von Demokratie.
Die Machtbefugnisse im Deutschen Reich
Wenn nun schon Wahlsystem, Präsidentenamt und Exekutive keine Belege eines undemokratischen Staates sein können – finden wir die Begründung der Behauptung, 1919 sei die erste deutsche Demokratie aus der Taufe gehoben worden, vielleicht in den Machtbefugnissen, die den Akteuren 1871 zugeschrieben wurde?
Letztlich geht es in jedem Staatswesen um Macht. Wer hat sie – wer kann sie wie einsetzen? Die Macht im modernen, demokratischen Staat soll vom Volke ausgehen. So steht es beispielsweise in jenem Grundgesetz, welches den Bundesbürgern unter Umgehung der ursprünglichen Verfassungsabsicht bis heute nicht zur Zustimmung vorgelegt wurde.
In der Staatstheorie ist diese Macht maßgeblich an die Gesetzgebung gekoppelt. Wer die Gesetze gibt, der verfügt über die Macht, der Exekutive – also auch der Regierung – vorzuschreiben, was sie zu tun hat. Als eines der wichtigsten Gesetze gilt deshalb die Verabschiedung des Staatshaushalts, weil in einer funktionierenden, repräsentativen Demokratie davon ausgegangen wird, dass die Verwaltung hierüber die Zuweisungen ihrer Aufgaben bekommt.
Die Gesetzgebungskompetenz
Nun könnte angenommen werden, dass in einem undemokratischen Deutschen Reich das Parlament nur eine Scheinfunktion hat, es also keine Gesetzgebungskompetenz hatte. Hier tut sich tatsächlich ein scheinbarer Makel auf. Denn gemäß Artikel 17 „steht die Ausfertigung und Verkündung der Reichsgesetze und die Ueberwachung der Ausführung derselben“ dem Präsidenten des Bundes zu.
Nun ist „Ausfertigung“ ein dehnbarer Begriff. Er kann bedeuten, dass jemand die entsprechenden Texte nach eigenem Gutdünken verfasst und beschließt. Es kann aber auch bedeuten, dass dieser Jemand lediglich die Verantwortung dafür trägt, von anderen vorgegebene Wünsche in nachvollziehbare Textform zu gießen.
Wie also verhielt es sich in der deutschen Demokratie von 1871? Um dieses zu verstehen, ist ein kurzer Blick auf die Institutionen des Reichs unverzichtbar. Denn – ähnlich der heutigen Konstruktion – verfügte das Reich neben Parlament, Regierung und Staatsrepräsentant über einen „Bundesrath“. In einem Bundesstaat, wie es das Reich war, ist eine solche Institution unverzichtbar. Wie auch heute war er in die Gesetzgebung einzubeziehen. Daher schrieb die Verfassung in Artikel 23 fest: „Der Reichstag [als Volksvertretung] hat das Recht, innerhalb der Kompetenz des Reichs Gesetze vorzuschlagen und … dem Bundesrathe resp. Reichkanzler zu überweisen.“
Die Abgeordneten hatten insofern das Recht, Gesetze zu verfassen. Doch sie konnten sie nicht ohne Mitwirkung des Bundesrats in Kraftsetzen – ein Verfahren, was im Wesentlichen auch heute gilt. Tatsächlich aber unterscheidet sich die demokratische Mitwirkung der Institutionen an der Gesetzgebung des „Deutsches Reich“ genannten Bundesstaats nicht vom heutigen Verfahren.
Artikel 2 Reichsverfassung schrieb fest: „Innerhalb dieses Bundesgebietes übt das Reich das Recht der Gesetzgebung nach Maßgabe des Inhalts dieser Verfassung und mit der Wirkung aus, daß die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen. Die Reichsgesetze erhalten ihre verbindliche Kraft durch ihre Verkündigung von Reichswegen, welche vermittelst eines Reichsgesetzblattes geschieht.“ Seine Zuständigkeit endete folglich dort, wo es um Landesrecht ging.
Artikel 5 der Reichsverfassung regelt das Verfahren: „Die Reichsgesetzgebung wird ausgeübt durch den Bundesrath und den Reichstag. Die Uebereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse beider Versammlungen ist zu einem Reichsgesetze erforderlich und ausreichend.“
Damit ist unverkennbar: Jedes Reichsgesetz bedurfte der Mehrheit sowohl im Parlament als auch in der Ländervertretung. Auch dieses ist heute nicht anders und darf uneingeschränkt als ein demokratisches Verfahren innerhalb eines Bundesstaates betrachtet werden.
Woher kommen die Diffamierungspotentiale?
Wenn nun schon die Verfassung des Deutschen Reichs von 1871 durchgängig als demokratisch zu bezeichnen ist – wie kann es dann sein, dass heute diese Demokratie stigmatisiert und diffamiert wird?
Um das zu verstehen, müssen wir begreifen, dass Macht tatsächlich bei jenen liegt, die in der Lage sind, sie auszuüben und an sich zu binden. So stand nach 1871 der Bundespräsident, der laut Artikel 11 „den Namen Deutscher Kaiser führt“, als Integrationsfigur des durch die Wiedergeburt des Reichs ausgelösten Patriotismus in gewisser Weise über den Institutionen. Daraus ergab sich, dass er mehr Einfluss hatte, als die Verfassung ihm eigentlich als Repräsentanten zubilligte. Nicht einmal den Krieg durfte er aus eigener Machtfülle erklären: Dazu war die Zustimmung des Bundesrathes unverzichtbar. Ausnahme: Es erfolgte ein Angriff auf das Bundesgebiet. Dann aber war eine Kriegserklärung letztlich auch obsolet. In seiner Funktion als Staatsrepräsentant war er maßgeblich als das vorgesehen, was man heute gern als „Grüßaugust“ bezeichnet – selbst zwischenstaatliche Verträge bedurften der Zustimmung durch Reichstag und Bundesrath.
Im demokratischen Parteienstaat der Gegenwart hingegen reichte – siehe beispielhaft Aachener Vertrag vom 22. Januar 2019 – eine undifferenzierte Aufforderung des Parlaments und die nach Inkrafttreten des zwischen den Regierungschefs ausgehandelten Vertrages durch einen Staatssekretär vorgenommene Unterrichtung, um den staatlichen Zusammenschluss zweier unabhängiger Staaten auf den Weg zu bringen.
Die BRD ist nicht demokratischer als das Reich
Wir können also festhalten: Wenn das Deutsche Reich von 1871 „undemokratisch“ war, so war es doch in mancherlei Hinsicht demokratischer als die Bundesrepublik des Jahres 2019. Ursächlich ist in beiden Fällen das Versagen eines Parlaments, dass sich zunehmend mehr seine Kompetenzen aus der Hand nehmen ließ, weil es sich einem öffentlich publizierten Druck der Führungsverehrung beugte. So, wie die Mehrheit der Parlamentarier des Reichstages es nicht wagte, „dem Kaiser“ durch gegen ihn gerichtete Beschlüsse öffentlich in den Rücken zu fallen, so wagt es eine Mehrheit des Deutschen Bundestages nicht, öffentlich Beschlüssen der von Merkel geführten Bundesregierung in den Rücken zu fallen.
In beiden Fällen haben wir es mit einer Selbstentmachtung zu tun, die die von der Verfassung beim Parlament gedachte Macht letztlich freiwillig an die ausführende Gewalt beziehungsweise die Staatsrepräsentanz abtrat.
Anders als gegenwärtig in den USA zu beobachten, wo sich das gewählte Parlament mit Händen und Füßen gegen die Kompetenzballung beim Präsidenten zu wehren beginnt, haben sich deutsche Parlamentarier ein ums andere Mal als demokratieuntauglich erwiesen. Sie ließen sich die Butter vom Brot nehmen und wurden zu Ausführungsorganen der Staatsführung. Die Ursachen sind in beiden Fällen ähnlich: Sie liegen in der medial-öffentlichen Überhöhung der die Macht repräsentierenden Person, die das Beharren auf parlamentarischer Kompetenz in die Nähe des gefühlten Staatsverrates drängt. Wagte es bis 1918 niemand, den Kaiser ernsthaft anzugehen, erkennen wir gleiches nun bei der Frau Bundeskanzler.
Wie sich Geschichte wiederholt
Wenn gegenwärtig deutsche Politiker den hundertsten Jahrestag der Weimarer Verfassung feiern und dabei das Reich von 1871 als undemokratisch geißeln, dann sei ihnen empfohlen, sich das anzuschauen, was sie aus der deutschen Demokratie des Jahres 1949 gemacht haben. Wobei ihnen zugute zu halten ist, dass die Anlage zur Ersetzung der Parlamentarischen Demokratie durch den Parlamentarischen Parteienstaat bereits im Grundgesetz angelegt war.
Sollte es zur Weimarer Verfassung, welche kein neues Reich schuf, sondern sich in der Tradition von 1871 verstand, tatsächlich etwas zum feiern geben, dann ist es das Wahlrecht der Frauen. Das allerdings war zu diesem Zeitpunkt ohnehin nicht mehr aufzuhalten – ohne den Krieg hätte es vermutlich nur etwas länger gedauert, bis die Männer das Unvermeidliche akzeptiert hätten.
Der Versuch hingegen, das Amt des Bundespräsidenten durch einen vom Volk gewählten, obersten Repräsentanten des Staates zu ersetzen, war zwar gut gedacht, erwies sich aber nach 1930 als Einstieg in die Diktatur. Die Wahl des Regierungschefs durch das Parlament, scheinbar ebenfalls ein Gewinn im Sinne der Demokratie, öffnete letztlich den Weg in den Parteienstaat und damit die Zerstörung des Gewaltenteilungsprinzips. Es wird zum Grabstein der Demokratie, die aktuell durch von Parteien besetzte Quotenparlamente ersetzt werden soll.
Die Diskreditierung der bürgerlichen Verfassung von 1871 ist insofern nichts anderes als ein Instrument des gegen die bürgerliche Zivilisation gerichteten Kulturkampfes, um einerseits die Geschichte der Deutschen Demokratie umzuschreiben und gleichzeitig vom eigenen Bestreben der Demokratiezerstörung abzulenken. Mit den Fakten hat sie nicht das Geringste zu tun.