Als am 9. September 1982 der damalige Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff sein „Wendepapier“ präsentierte, war das der Anfang vom Ende der sozialliberalen Koalition unter Helmut Schmidt. Sein Papier war nicht der Auslöser, sondern der Schlusspunkt einer sich entfremdenden Beziehung zwischen Liberalen und Sozialdemokraten. Bis heute hält diese Entfremdung an. Und wer aktuell die Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie betrachtet, kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass eine Fusion mit der Linkspartei wahrscheinlicher ist als eine Wiederentdeckung sozialliberaler Bündnisse.
Lambsdorff, dessen Todestag sich in der vergangenen Woche zum zehnten Mal jährte, überschrieb sein Papier etwas sperrig als „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“. Dieser wirtschaftspolitische Befreiungsschlag war der ökonomischen Situation in Westdeutschland geschuldet. Der Schock der zweiten Ölkrise ließ die Arbeitslosigkeit auf zwei Millionen ansteigen und die Wirtschaftskraft um ein Prozent schrumpfen. Es herrschte also akuter Handlungsbedarf. Im Wendepapier schlug Graf Lambsdorff einen Befreiungsschlag bei Privatisierungen, bei den Ausgaben des Sozialstaates, beim Rückbau der Bürokratie und steuerliche Entlastungen für Bürger und Unternehmen vor.
Graf Lambsdorff würde heute wieder für mehr Marktwirtschaft streiten. Im Vorwort für die Neuauflage des Buches „Der Weg zur Knechtschaft“ von Friedrich August von Hayek schrieb er 1990: „Bei mehr Marktwirtschaft hätten wir mehr mündige Bürger, weniger Trittbrettfahrer auf dem Wohlfahrtszug und mehr Arbeit in zumutbaren Beschäftigungen. Dann wäre auch mehr Hilfe für die wirklich sozial Schwachen möglich.“ Dieser Befund gilt heute immer noch. Inzwischen gibt der Staat in Deutschland über 1.000 Milliarden Euro im Jahr für Soziales aus. Gabor Steingart schrieb dazu vor einigen Tagen in seinem Morning Briefing: Deutschland gebe pro Kopf mehr für Soziales aus als die verbliebenen sozialistischen Länder Nordkorea, China und Kuba – zusammen.
Über den Standort Deutschland findet derzeit keine öffentliche Diskussion statt. Deutschland befindet sich in einer Art Delirium. Man nimmt die Wirklichkeit nicht wahr. Man zehrt von der Vergangenheit und meint, dies sei die Grundlage für den Fortschritt von morgen. Dabei ist der Standort Deutschland mindestens genauso gefährdet wie 1982. Das Wachstum sinkt, die Automobilindustrie kränkelt, die Exportindustrie ist durch die Unsicherheiten im Welthandel angeschlagen und die Regierung ist nicht handlungsfähig. Das sind keine guten Voraussetzungen, um neue Dynamik entstehen zu lassen.
Ein Befreiungsschlag wie 1982 wäre daher jetzt notwendig. Dieses Mal muss die CDU/CSU diesen Befreiungsschlag wagen und das Ende der Koalition mit der SPD einleiten. Die Entscheidung für Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken und gegen Olaf Scholz und Klara Geywitz ist auch eine Entscheidung für Kevin Kühnert und für den Kurs der Jusos innerhalb der SPD. Es ist der Kurs der Enteignung, neuer Staatsverschuldung, immer höherer Mindestlöhne – kurz: es ist der sozialistische Weg. Die SPD fällt damit hinter Godesberg zurück und droht, bedeutungslos zu werden.
Will die Union sich nicht vom Virus der Jusos infizieren lassen, muss sie jetzt handeln. Die Zeit ist dafür durchaus günstig. Der Bundeshaushalt 2020 ist verabschiedet. Die Regierung ist daher grundsätzlich handlungsfähig. Gleichzeitig könnte der Bundestag mit einer unionsgeführten Minderheitsregierung sinnvolle Fragen entscheiden und weniger sinnvolle Fragen sein lassen. Für die gänzliche Abschaffung des Solis gäbe es im Bundestag wahrscheinlich eine Mehrheit. Für die bedingungslose Grundrente sicherlich nicht.
Der Vorteil dieses Vorgehens wäre, dass die Bürger wieder den Wert von Politik und Entscheidungen kennen würden. Das ist unendlich wichtig. Graf Lambsdorff betonte dies ebenfalls: „Die Menschen werden die freiheitliche Ordnung nur dann verteidigen, wenn sie ihre Grundlagen begreifen und bejahen. Dann werden sie auch die Gefährdung der Freiheit rechtzeitig erkennen und den Anfängen wehren.“