Wahrscheinlich hat sich Bundeskanzlerin Angela Merkel bereit im Sommer letzten Jahres entschieden, erneut als Kanzlerkandidatin von CDU und CSU anzutreten. Dass sie die Bereitschaft für die Kandidatur erst offiziell am 20. November erklärte, zeigte bereits ihre innere Zerrissenheit. Sie spürte wohl damals schon, dass der Weg zu einer vierten Amtszeit kein Spaziergang wird. Bereits die ständigen Sticheleien der Schwesterpartei aus München setzten ihr zu. Ihr taktisches Gespür hat sie spätestens ein Jahr zuvor verlassen. Die Flüchtlingskrise hängt ihr seitdem wie ein Mühlstein um den Hals.
Ihre einsame Entscheidung, im Sommer 2015 die Flüchtlinge und Migranten an der ungarischen Grenze, am EU-Recht und am Grundgesetz vorbei, nach Deutschland zu holen, hatte sie damals mit der Wortschöpfung des „humanitären Imperativs“ begründet. Als hätte die deutschen Außen- und Entwicklungshilfepolitik bis dahin keine Instrumente geschaffen, um humanitäre Hilfe überall auf der Welt zu leisten. Bei humanitären Krisen und auch bei Naturkatastrophen sind die Hilfsorganisationen vom Roten Kreuz über das THW bis hin zur Bundeswehr im Einsatz. Es hätte also humanitäre Alternativen zur einsamen Entscheidung der Kanzlerin gegeben. Ihr Vorgehen machte das gemeinsamen Handeln in der EU unmöglich, bürdete Deutschland enorme finanzielle Lasten auf und war auch humanitär fragwürdig, da Hunderttausende, die zu uns kamen, mangels Rechtsanspruch wieder in ihr Heimatland zurückkehren müssen.
Von der Kandidatur von Martin Schulz wurde Angela Merkel völlig überrascht. Insofern ist Sigmar Gabriel mit dem Kanzlerkandidaten der SPD ein brillanter Coup gelungen. Doch die hohe Zustimmung zu Martin Schulz lässt sich nicht mit seiner politischen Agenda begründen. Sie ähnelt zu sehr der von Merkel. Er ist wie Merkel ein Machtpolitiker, der die Rolle des Staates als Problemlöser für gesellschaftliche Fragen präferiert. Ob Mütterrente oder Rente mit 63, ob Vätermonate beim Elterngeld oder Frauenquoten in Unternehmen oder auch Bankenrettung um jeden Preis – immer wird die Rolle des Staates überdehnt.
Schulz ist jemand, der – vielleicht noch mehr als Merkel – einer Zentralisierung der Europäischen Union das Wort redet. Er steht daher wie die Kanzlerin für eine Vergemeinschaftung der Schulden in der EU. Und er drohte den Briten vor der Brexit-Entscheidung mit einem Ultimatum, das da lautete: Alles oder nichts. Nur wenn die Briten die Personenfreizügigkeit im eigenen Land zuließen, würde der Zugang zum EU-Binnenmarkt weiter ermöglicht. Auch das hat Angela Merkel in ähnlicher Weise gesagt. Kurzum: inhaltlich unterscheiden sich die beiden nur marginal.
Es ist wohl etwas Anderes, das Merkel in die Defensive bringt. Es ist ihre erkennbare Amtsmüdigkeit. Sie wirkt nach 12 Jahren Kanzlerschaft lustlos und ausgelaugt. Die Wahl von Donald Trump in den USA, die Brexit-Entscheidung der Briten und jetzt die permanenten Provokationen Erdogans müssten ihr eigentlich in die Hände spielen. Wahrscheinlich könnte niemand in Europa jetzt so gut wie Merkel der europäischen Idee wieder neue Impulse verleihen. Sie ist die mit Abstand dienstälteste und erfahrenste Regierungschefin in Europa. Doch ihre Vorschläge erlahmen im Kleinklein. Sie laviert und wirkt dabei als Getriebene. Erdogans Versuch, die Werte von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit im eigenen Land Stück für Stück zu beseitigen, ist für das Schwellenland Türkei schon eine Katastrophe an sich. Jetzt versucht er diese zersetzenden Kräfte auch in der Mitte Europas zu entfachen, um zu Hause ein Vorteil daraus zu erzielen.
Nichts könnte eigentlich besser die Einigkeit und Solidarität in Europa erneuern als die entschlossene Ablehnung der Übertragung der innertürkischen Konflikte in die Mitgliedsstaaten der EU. Auf den Willen, die Meinungs- und Pressefreiheit, die Rechtsstaatlichkeit und die Gewaltenteilung als tragende Prinzipien einer freien Gesellschaft durchzusetzen können sich alle 28 Staaten EU-Staaten verständigen. Daher könnte nichts die Rolle Merkels in Europa besser befördern als eine Initiative Deutschlands in der EU für ein einheitliches und entschlossenes Vorgehen gegen die Politik Erdogans. Gerade im sechzigsten Jubiläumsjahr der Unterzeichnung der Römischen Verträge wäre dies eine große Chance, um der EU wieder einen neuen, dieses Mal positiven Impuls zu geben. Dazu scheint sie nicht in der Lage. Merkels Lethargie erinnert an die Endphase Helmut Kohls 1998. Auch er war amtsmüde und hielt sich dennoch für unersetzbar.
Vielleicht wäre unserer Demokratie geholfen, wenn eine verfassungsrechtlich zeitliche Begrenzung von Regierungsämtern auf zwei Legislaturperioden verankert würde. Die Lebendigkeit unserer Demokratie würde so einen schnelleren Wechsel von Macht ermöglichen. Es würde das vom rechtlichen Rahmen her untermauern, was Karl Popper in seinem Buch „Auf der Suche nach einer besseren Welt“ über die Demokratie formulierte und was uns von der Türkei Erdogans unterscheidet: „Der Unterschied zwischen Demokratie und einer Despotie besteht darin, dass man in einer Demokratie seine Regierung ohne Blutvergießen loswerden kann, in einer Despotie aber nicht.“