„Eine starke europäische Gemeinschaft kann es nur in den Bereichen geben, in denen die Mitglieder der Europäischen Union gemeinsame Interessen haben.“ Als überzeugter und liberaler Europäer setzte sich Ralf Dahrendorf für einen realistischen Blick auf die EU ein und arbeitete gegen die politisch vagen Hoffnungen an, die viele auf die EU projizierten. Zehn Jahre nach dem Tod Dahrendorfs lohnt sich der Blick auf das theoretische und praktische Vermächtnis des ehemaligen Kommissars.
Unter dem Pseudonym Wieland Europa verfasste Dahrendorf 1971 als EWG-Kommissar in der ZEIT den Artikel „Ein neues Ziel für Europa“, der bis heute an Aktualität nichts verloren hat. Hier trifft er die Kernprobleme der EU ins Mark. Denn schon damals lag es in der Identität der EWG, stetig mehr Kompetenzen an sich zu reißen und zu harmonisieren, wo eigentlich das Subsidiaritätsprinzip greifen muss; um dem großen und gut gemeinten Ziel, den Vereinten Staaten von Europa, peu à peu näher zu kommen. Das lag weit vor Maastricht, vor Amsterdam und vor Lissabon und die Europäische Union hat sich seither weiterentwickelt, doch als Kommissar für den europäischen Außenhandel, erkannte Dahrendorf die Trugschlüsse der europäischen Idealisten – die sich bis heute halten.
Europäische Lösungen seien nicht allein deshalb gut, „weil sie europäisch sind“, so Dahrendorf in dem Artikel. In seiner Vorstellung ist der Europäische Gedanke immer mit Vielfalt und mit Differenzen verknüpft. Dieses bunte Europa muss dann gemeinsam handeln, wenn es im nationalen Interesse aller ist. Die Bereiche in denen das zutrifft sind offenkundig. Der gemeinsame Handel, die gemeinsame Außenpolitik – heute würde man noch die Umweltpolitik hinzuzählen. Vor allem dort kann Europa stark sein, wo nationale Interessen auf gemeinsame Ziele treffen.
„Denn es geht – um das Glatteis des Begriffsstreites für einen Augenblick zu betreten – im zukünftigen Europa weder um supranationale Fiktionen noch um eine bloße Addition der Nationen; […] es geht weder um Souveränitätsverzicht, noch um unveränderte Ausübung von Souveränität. Es geht um den Versuch der gemeinsamen Ausübung der Souveränität der europäischen Länder“, konstatiert Dahrendorf.
Doch die vagen Hoffnungen, die die Idealisten mit dem Projekt verbinden, führen zu Souveränitätsverzicht und zu mehr Integration im Verborgenen – das ist bis heute so. Da ist zum Beispiel die ungelöste Griechenlandkrise, die schleichend zu mehr Kompetenzen für die EU geführt hat. Die Rettung der Griechen hat gezeigt: „Europäische Solidarität“ übertrumpft europäisches Recht und die Maastrichter Kriterien wurden beiseite gewischt. Die Idealisten verlautbarten: „Scheitert der Euro, scheitert Europa“ – was als Argument genügte, die Nichtbeistandsklausel (No-Bailout-Klausel), als einen elementaren Bestandteil des Maastrichter Vertrages, direkt außer Kraft zu setzen. Um für die Zukunft gewappnet zu sein, wurde durch den folgenden Europäischen Rettungsschirm (ESM) aus der Not eine Tugend gemacht. Nun haftet die europäische Gemeinschaft für einzelne europäische Haushalte. Die Antwort auf die Krise lautet also „Ever Closer Union“. Es wurde europäische Integration durch die Hintertür betrieben. Aus der Haftung und der „engeren“ Union ergeben sich nun neue Probleme und Forderungen, die die Souveränität der einzelnen Länder schmälern.
Diese Methode kritisierte bereits Dahrendorf in einem ZEIT-Interview von 1993 und sagte: „Dieser funktionalistische Ansatz, […] daß man Resultate erzwingen kann, indem man auf einer bestimmten Schiene abfährt, ist […] falsch“. Denn die Schraube dreht sich immer weiter und das konsequente Resultat dieser Politik, das die Idealisten nun sehen wollen, ist ein europäischer Finanzminister, der dem Getümmel der Finanzminister in den Mitgliedstaaten ein Ende setzt. Das würde schließlich auch die Kritiker besänftigen, die sich seither über die illegale what-ever-it-takes Politik, der EZB echauffiert haben. Schritt für Schritt wird die Integration von den Idealisten so vorangetrieben. Dem EU-Wahlkampf war jetzt zu entnehmen, nun müssten die nächsten EU-europäischen Lösungen folgen: Eine gemeinsame Arbeitslosenversicherungen, ein EU-europäischer Mindestlohn. Danach wird es den Ruf nach dem EU-europäischen Wirtschaftsminister geben.
Weiterhin hieß es in den Wahlprogrammen, die EU müsse effizienter sein, und einige wenige Länder dürften den EU-europäischen Prozess nicht aufhalten. Damit ging die Forderung einher, das Einstimmigkeitsprinzip der EU aufzulockern. Hierzu sagte Dahrendorf: „Europa kann nur dort real sein, in dem es getragen wird von seinen Gliedern, ein Mehrheitsbeschluss […] kann einstweilen nur bedeuten, dass die Überstimmten eigene Wege gehen.“ Ein eigentlich logisches Phänomen, das wir spätestens seit dem Brexit kennen. Wenn sich eine Mehrheit – egal ob absolut, qualitativ dazu berufen fühlt, über die Interessen von einzelnen Ländern hinweg zu entscheiden, mit dem Argument, die EU sei eine Solidargemeinschaft, führt dies zur Spaltung der Europäischen Union. Das Argument „wer a sagt, muss auch b sagen“ wird derweil auch benutzt, wenn die rechtlichen Grundlagen dafür nicht gegeben sind. Einstimmigkeit ist zwar mühsam und ineffizient, aber es wird die EU-Gemeinschaft beisammen halten und die Aufgabenbereiche auf die Wesentlichen konzentrieren: Dort wo wir gemeinsame Interessen haben. Die gemeinsamen Interessen liegen weder in der Wirtschaftspolitik, noch in der Finanzpolitik. Sie liegen dort, wo wir uns gegenseitig stärker machen – in der Handelspolitik und in der internationalen Präsenz. Die „Kollateralschäden“ der Mehrheitsbeschlüssen schwächen hingegen die europäische Gemeinschaft und unsere grundlegende Stärke.
Wie soll es zu Exits kommen, wenn wir unsere nationalen Interessen bewahren können? Wenn sich kein schleichender nationaler Souveränitätsverlust durch die Hintertür breit macht? Nur wenn Europa bunt und vielfältig ist und sein darf, ist es stark. Dahrendorf hat Kernprobleme der EU früh erkannt. Als europäische Stimme fehlt er heute.