Die Tragik der Europäischen Union ist nicht, dass es keine Regeln gäbe. Die Tragik der EU ist, dass sie im Zweifel soweit verbogen werden, dass anschließend auch das glatte Gegenteil ihres Ursprunges herauskommen kann. Je prekärer die Situation ist, desto größer ist die Rechtsbeugung. Und natürlich finden die Eurokraten einen Randparagraphen oder einen Juristen, der im Zweifel das eigene Handeln legitimiert. Gerade dieser fatale Pragmatismus ist die eigentliche Ursache der Legitimationskrise der EU.
Klar waren die Regeln von Anfang an. Die Maastricht-Kriterien legten die Verschuldungsobergrenzen fest, das Dubliner-Abkommen den Umgang mit Asylbewerbern, der Fiskalpakt das Verschuldungsverbot und Hilfskredite der Eurostaaten setzten eine Schuldentragfähigkeit des Krisenlandes und eine Gefährdung des Euro-Raumes als Ganzes voraus. Bei der jeweiligen Verabschiedung in den Regierungskonferenzen und Parlamenten wurde das neue Recht gefeiert und als wichtiger Meilenstein des europäischen Einigungsprozesses glorifiziert.
Geld kommt früher als das Gesetz
Jüngstes Beispiel ist der Europäische Stabilitätsmechanismus ESM. Was haben sie nicht alle an den einzelnen Paragraphen des ESM-Vertrages herum gefingert, ihn ausgelegt und bis vor das Bundesverfassungsgericht gezerrt. Am Ende war man sich einig, dass der ESM ohne Zustimmung des Deutschen Bundestages nicht tätig werden dürfe, weil der Bundesfinanzminister im Gouverneursrat im Zweifel sein Veto einlegen können müsse, wenn der Bundestag nicht oder noch nicht entschieden habe. Hoch und heilig wurde dies vom Finanzminister, der Bundeskanzlerin und der übergroßen Mehrheit des Bundestages versprochen. Und nun? Immer wenn es eng wird, verfährt man nach dem alten Adenauerschen Grundsatz: „Was geht mich mein Geschwätz von gestern an“.
Wie jetzt die Nachrichtenagentur Bloomberg berichtete, hat der ESM bereits vor der Zustimmung des Deutschen Bundestages über das dritte Hilfspaket für Griechenland in Höhe von 86 Milliarden Euro am 19. August 2015 faktisch eine Zwischenfinanzierung über 7,8 Milliarden Euro für Griechenland bereitgestellt. Ziel war es, die Zeit bis zur Verabschiedung durch die nationalen Parlamente und die anschließende Zustimmung des ESM-Gouverneursrates zu überbrücken. Eine Zustimmung oder Konsultierung des Bundestages oder eines anderen nationalen Parlaments fand nicht statt. Man agierte stattdessen heimlich im Verborgenen. Der ESM investierte für 7,8 Milliarden Euro in Anleihen, die im Rahmen einer streng geheimen Privatplatzierung von der EU begeben wurden. Anschließend reichte die EU die Gelder an die griechische Regierung weiter, damit diese ihre Anleihen bedienen konnte.
Der Europäische Stabilitätsmechanismus kaufte also mit dem Eigenkapital, das seine Mitgliedsstaaten zur Verfügung gestellt haben, kurzfristige Anleihen, die die Triple-A bewertete Europäische Union selbst begeben hat. Das nennt man im Fachjargon „linke Tasche, rechte Tasche“. Alle waren anschließend zufrieden: Die griechische Regierung konnte ihre Anleihen bei der EZB bedienen, die EZB musste keinen Ausfall befürchten, der ESM musste sein Eigenkapital eh anlegen, der Bundestag konnte in Ruhe beraten und die EU-Kommission konnte sich als Retter in der Not beweisen.
Linke Tasche – rechte Tasche als Finanzierungsmodell
Jetzt sagen die Rechtsverdreher, dass das alles seine Richtigkeit habe. Natürlich dürfe der ESM – er müsse sogar – sein Eigenkapital in Papiere mit bestem Rating anlegen. Warum also nicht in Anleihen oder Krediten der EU? Das sei doch besonders sicher, da es ja die eigenen Verbindlichkeiten seien, die man mit eigenem Geld kaufe.
Es steht aber leider zu befürchten, dass findige Advokaten bald daraus ein neues Modell der EU-Finanzierung zimmern werden. Wenn die EU sich für vier Wochen beim ESM verschulden kann, wieso dann nicht für ein Jahr, 10 Jahre oder 50 Jahre. Wieso kann man dann nicht den EU-Haushalt insgesamt darüber finanzieren und damit die Mitgliedsstaaten von ihren EU-Beiträgen entlasten. Gut, dagegen stünde noch das Verschuldungsverbot der EU in den europäischen Verträgen. Doch Papier ist geduldig – nicht erst seit Beginn der Griechenlandkrise.
Schon jetzt werden neue Begehrlichkeiten mit einer neuen Institution, dem EU-Finanzminister, geweckt. Sie soll mit einem eigenen Etat ausgestattet werden, damit sie Wohltaten in ganz Europa verteilen kann. Wohltaten, die kein Regierungschef mit Geld aus seinem eigenen Haushalt finanzieren will. Da trifft es sich gut, dass die EU jetzt ein Fuß in der Tür zur eigenen Verschuldung hat. Doch die Europäische Union ist dadurch immer mehr eine europäische Willkürherrschaft, wo sie eigentlich eine europäische Rechtsgemeinschaft sein sollte. Um es mit Ralf Dahrendorf zu sagen: „Eine Europäische Rechtsunion hat weit größere Priorität als die Europäische Währungsunion. Europa muss Rechtsstaat und Demokratie verkörpern, pflegen und garantieren; sonst ist es der Mühe nicht wert.“
Dieser Beitrag erschien zuerst im Blog von Prometheus – Das Freiheitsinstitut.