2015 war der Euro-Club der „kranke Mann“ Europas. Er wird es 2016 wohl bleiben. Denn die Länder, die den Euro eingeführt haben, schwächeln. Sie schwächeln im Wachstum, bei den Arbeitsplätzen und beim Abbau des staatlichen Defizits. Die Folgen sind wachsende Verschuldung der staatlichen Ebenen, der privaten Haushalte sowie der Banken und Unternehmen: nicht bei allen, aber bei der Mehrheit der Mitgliedsstaaten. Der Grund dieser Schwäche ist die Trägheit, Saturiertheit und Langsamkeit des gesamten Euro-Clubs. Das hat wiederum viel mit dem Umgang innerhalb der Währungsunion zu tun und weniger mit seinem Rechtsrahmen.
Es war einmal die Hoffnung auf Angleichung
Die Gründerväter des Euros glaubten, dass die Einführung des Euro zu einer Angleichung der Ökonomien führen würde und zu einem wachsenden Wohlstand für alle. Die Maastricht-Kriterien, die fiskalische Disziplin erzwingen sollten, eine unabhängige Notenbank und eine EU-Kommission, die als Hüterin des Rechts, darüber wacht, sollte die Konvergenz schaffen. Diese These war und ist bei vielen Ökonomen in Deutschland beliebt. So formulierte bereits 1992 der spätere Bundespräsident und damalige Finanzstaatssekretär Horst Köhler im Spiegel-Interview: „Mit dem Maastrichter Ergebnis schreiben wir die soziale Marktwirtschaft als Ordnungsmodell für Europa fest. Das gibt uns die Möglichkeit, in Ruhe und Stabilität im Laufe der Zeit Entwicklungsunterschiede in Europa auszugleichen. Davon werden wir alle profitieren.“
Gemeinhin meint man in Deutschland, andere in Europa hätten diese Logik nicht verstanden. Doch das ist nicht so. Der spanische Ökonom Jesús Huerta de Soto, einer der herausragenden und klugen Ökonomen Spaniens und Anhänger der Österreichischen Schule der Ökonomie, spricht sogar davon, dass der Euro wie der historische Goldstandard die Regierungen diszipliniere. Er meint sogar, der Euro treibe zu haushälterischer Strenge, tendenziell die Wettbewerbsfähigkeit erhöhenden Reformen und setze den Missbräuchen des Wohlfahrtsstaates und der politischen Demagogie ein Ende.
Die Praxis fehlender Einsicht
Was beide, Köhler und de Soto, völlig unterschätzten, ist das fehlende Verständnis in den Euro-Staaten, in der Kommission und erst recht in der EZB für den gemeinsamen Ordnungsrahmen. Dieser setzt nicht nur den gemeinsam ratifizierten völkerrechtlichen Vertrag voraus, sondern das gemeinsame Verständnis darüber, was man unterschrieben und welche Konsequenzen dies hat. Und gerade daran mangelt es. Besonders deutlich wurde dies vor Weihnachten im Parlament der Europäischen Union. Dort sagte EU-Kommissionspräsident Juncker mit Blick auf den Europäischen Stabilitätspakt und das erneute Hinausschieben des französischen Defizitabbaus: In der EU gehe es „nicht um Rechtsregeln oder Prozentzahlen, sondern um Menschen und die politischen Entscheidungen, die sie betreffen.“ Hier spricht der Pragmatiker, der von Fall zu Fall entscheiden will, was richtig und notwendig ist. So sieht in der Praxis die „Hüterin des Rechts“ aus. Und Mario Draghi, dem die Staatsfinanzierung über die Druckerpresse verboten ist, macht genau dies mit der EZB und verlängert sein Schuldenaufkaufprogramm nochmals.
Die Befürworter dieses Pragmatismus, betonten die Notwendigkeit der Maßnahmen mit der benötigten Zeit für die entsprechenden Anpassungsmaßnahmen in den Problemländern. Doch halt: Im kommenden Jahr ist bereits das neunte Jahr nach der Bankenkrise, die 2007 ihren Beginn nahm. Seitdem hat sich die Verschuldung in den Krisenstaaten wie Italien, Frankreich, Spanien, Portugal, Griechenland, Zypern massiv erhöht. Die Arbeitslosigkeit hat in diesen Ländern historische Höchststände erreicht. Bis auf Spanien ist das Wachstum überall mau und das staatliche Defizit groß.
Der Euro funktioniert nur mit funktionierendem Recht
Es ist genau das Gegenteil eingetreten, was Köhler, de Soto und anderen vorausgesagt haben. Die Praxis des Euro hat nicht zur Konvergenz, sondern zur Divergenz der Ökonomien geführt. Nicht der Geist des Euros war daran Schuld, sondern das Schleifen des Rechtsrahmens durch die Institutionen selbst. Dadurch sind die Regeln beliebig geworden. Das ist zumindest historisch uneuropäisch. Die europäische Freiheitsidee hat sich vor Jahrhunderten gerade gegen die Allmacht der Herrschenden durchgesetzt, weil Bürger ihren Königen und Fürsten abtrotzten, dass diese nicht über dem Recht stünden, sondern ihm untergeordnet sind.
Die Herrschaft des Rechts ist Teil der Kulturtradition Europas. Eine Rückbesinnung auf diese Tradition ist gleichzeitig die Überlebenschance für die gemeinsame Währung – vielleicht ihre einzige.