Welches Spiel wird hier gespielt?
Man versteht eine Situation besser, wenn man sie auf ihren Kern reduziert – das ist die Vorgehensweise der Spieltheorie. Im vorliegenden Fall gibt es eine „Inspektorin“, die die Abgaswerte eines Automobilherstellers überprüft (nein, ich bin kein Genderist, aber meine geradzahligen Spieler sind immer weiblich). Der Automobilhersteller will bei dem Test besonders gut abschneiden und gleichzeitig möglichst wenig dafür ausgeben. Daher optimiert er die Abgaswerte nicht überall, sondern nur an einigen Stellen.
Tun wir aus Vereinfachungsgründen einmal so, als gäbe es nur zwei Stellen, an denen man prüfen bzw. optimieren kann: Stelle A und Stelle B. Das ist keine sehr große Einschränkung, weil das Prinzip auf beliebig viele Prüfstellen erweitert werden kann. Das entstehende Spiel sieht dann so aus wie in der folgenden Tabelle. (In der Tabelle stehen immer die Auszahlungen an den Hersteller vorn und an die Prüferin hinten.)
Wenn der Auto-Hersteller dort optimiert, wo er auch geprüft wird, dann erhält er als Auszahlung 1 (also etwas Gutes), weil er die Stelle B an der Prüferin vorbeigeschmuggelt hat. Prüft sie ihn hingegen dort, wo er nicht optimiert hat, dann verliert der Hersteller Geld (symbolisiert durch eine negative Auszahlung von -1), und sie gewinnt eine Beförderung (Auszahlung von 1). Die genauen Zahlenwerte braucht man hier nicht so ernst zu nehmen, es kommt hauptsächlich darauf an, welchen Spielausgang die beiden Spieler gut und welchen sie schlecht finden.
Das ist erst einmal wenig spektakulär, sondern eine Standardsituation in der Spieltheorie: Es ist ein sogenanntes Diskoordinationsspiel, das eine einfache Rationallösung hat.
Das rationale Verhalten in diesem Spiel
Die Rationallösung dieses Spiels besteht darin, dass die Prüferin „mischt“, also zufällig mal hier und mal da prüft. Da es den Hersteller überall erwischen kann, macht er es genauso. Wenn die Kosten für das Erwischt-Werden hoch genug sind, dann mischt er nur noch ein klein wenig und macht es fast immer wie gewünscht.
In dem echten Prüfspiel zum Abgastest gibt es aber eine Besonderheit: Die Prüferin sagt vorher, wo sie prüfen wird. Das liegt daran, dass der Testzyklus „justiziabel“ sein muss und vorher in einer Norm genau beschrieben wurde. In dem obigen Spiel bedeutet das, dass die Prüferin schon vorher sagt, ob sie an Stelle A oder B prüfen wird. Nun hat das Diskoordinationsspiel aber einen ausgeprägten Second-Mover-Advantage, d.h. wenn sich ein Spieler vorher festlegt, was er tun wird, dann gibt dies dem anderen Spieler einen deutlichen Vorteil. Wenn nur an Stelle A geprüft und dies auch noch angekündigt wird, dann optimiert der Hersteller natürlich auch nur die Stelle A.
Genau das hat VW getan. Es wurde angekündigt, wie geprüft wird, und VW optimiert für diese Prüfung durch einen definierten Testzyklus. Das ist keineswegs neu. Diese sogenannte „Zyklenerkennung“ ist nicht nur völlig rational, sondern auch weit verbreitet. Sogar in diesem Fall war es durchaus schon vor dem Skandal bekannt. Schon in den 1980er Jahren wurden zum Beispiel Hifi-Verstärker so gebaut, dass sie den Ausgang komplett abschalten, solange kein Signal anliegt. Dann hört man kein Rauschen und es wirkt bei der normgerechten Messung so, als habe der Verstärker einen riesigen Rauschabstand, wie es dort so schön heißt. Natürlich ist das genauso ein Fake wie der Abgastest von VW, denn bei dem Hören echter Musik bricht der Rauschabstand sofort auf den ungefälschten Wert zusammen.
Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass von der Stiftung Warentest hochgelobte Produkte oftmals im Alltag viel schlechter sind als die vermeintlichen Nieten? Das liegt unter anderem daran, dass besonders die großen Hersteller ziemlich genau wissen, wo die Messpunkte sind (was durchaus etwas übertragend gemeint ist) und einfach dagegen optimieren. Dann schneidet das Produkt im Test hervorragend ab und ist im Alltag trotzdem eine Zitrone. Ich habe zum Beispiel ein Pedelec, das bei der Stiftung Warentest ein „mangelhaft“ bekommen hat – aber im Alltag hält es seit Zigtausend Kilometern besser als alle Konkurrenzprodukte, die ich kenne. Es stammt von einem kleineren Hersteller aus der Schweiz (Biketec), der einfach gute Fahrräder bauen wollte und keine testoptimierten. Er ist nach dem Testurteil fast in die Pleite gerutscht, weil er das Spiel nicht rational gespielt hatte.
Wo ist jetzt doch gleich der Skandal?
Wieso sind wir nun auf einmal alle so schockiert von VW? Tatsache ist, dass wir das strategische Verhalten der Zyklenerkennung nicht nur von etlichen anderen Stellen kennen, sondern es auch meist dulden. Deshalb bin ich auch sicher, dass der Skandal noch ganz andere Ausmaße annehmen wird und sich andere Hersteller (nicht nur von Autos) schon mal sehr warm anziehen können.
Es ist übrigens auch hervorzuheben, dass VW überhaupt kein Gesetz gebrochen hat. Es gibt lediglich eine Vorschrift, die bestimmte Schadstoffwerte in einem definierten Test verlangt; über das Verhalten auf der Straße sagt die Vorschrift nichts, aber auch gar nichts aus. Genau das ist ja der Sinn einer solchen Prüfnorm.
Wieso empfinden wir den Fall von VW dennoch als Skandal? Das liegt an den neuen technischen Möglichkeiten und der Intelligenz, die heutzutage in den Fahrzeugen steckt. Bei einem rein mechanischen System (wie einem Fahrrad) kann man nur sehr begrenzt gegen einen bekanntgegebenen Prüfzyklus optimieren. In modernen Autos entsteht aber eine neue Qualität.
Das Auto als denkendes Lebewesen
Das Auto erkennt inzwischen seine Umwelt fast so, als wäre es ein Lebewesen. Es hat Sensoren für so ziemlich alles, was man sich vorstellen kann, und misst daher Lenkbewegungen ebenso wie Beschleunigung und alle möglichen anderen Fahrparameter. Es weiß also sofort, wenn es auf einem Prüfstand steht und verhält sich dort anders als in freier Wildbahn. Das ist nicht anders als ein Mensch in einem Bewerbungsgespräch. Er wird dort auch verkleidet in Anzug und Krawatte erscheinen anstatt mit Lederjacke und Bierflasche, selbst wenn das sein übliches Verhalten im Alltag sein sollte.
Diese Intelligenz des Autos ist es, die uns so verstört. Es ist kein Skandal, dass es eine Zyklenerkennung gibt, denn die existiert seit eh und je. Wir sind verstört, weil sie hier so beängstigend gut funktioniert.
Das Auto selbst wird so intelligent, dass es wie ein eigener Spieler auftritt. Das waren wir bisher nur von Menschen gewohnt. Wir müssen verstehen, dass ein Auto in der Lage ist, selbst rational mitzuspielen und eine Prüferin zu überlisten. Das ist es, was uns so schockiert. VW hat nicht qualitativ anders gehandelt als allgemein üblich. Aber wo vorher die Komplexität einer Toilettenspülung war, ist nun auf einmal ein rational handelnder Spieler in Form einer künstlichen Intelligenz. Wir müssen verstehen, dass das Auto selbst ein Spieler in dem Spiel ist, das ich oben beschrieben habe. Das Auto ist intelligent und spielt mit. Das passt nicht zu gesetzlichen Regelungen, die noch nie etwas von künstlicher Intelligenz gehört haben.
Die künstliche Intelligenz in der Technik wird uns in der nahen Zukunft noch oft beschäftigen, glauben Sie mir.
(Bild: © Alexandre W)