Tichys Einblick
Unser Gehirn hat einen zu kleinen Speicher

Verfügbarkeitsheuristik oder „Was ist Aleppo?“

Christian Rieck wünscht sich einen echten Außenseiter als US-Präsidenten, dessen Welt nicht (oder wenigstens anders) durch die allgemeinen Wahrnehmungsfehler geprägt ist. Die Chancen dafür sind etwa so hoch, wie häufig wir von Gary Johnson gehört haben.

© Scott Olson/Getty Images

Wenn Sie zum amerikanischen Präsidenten gewählt würden, was würden Sie bezüglich Aleppo machen?

(Fragender Blick)

Bezüglich Aleppo.

Und was ist Aleppo?

Sie machen Witze.

Nein.

Ich weiß nicht, ob Sie diesen Dialog kennen. Er wurde nicht mit irgendeinem beliebigen Menschen geführt, sondern mit einem echten amerikanischen Präsidentschaftskandidaten des Jahres 2016, dessen Stimmenanteil zeitweise über 10 Prozent lag: mit Gary Johnson, dem dritten Kandidaten neben Clinton und Trump. Es gibt noch ein zweites Interview, in dem Johnson gefragt wird: Nennen Sie mir einen ausländischen Regierungschef, den Sie bewundern. Kommen Sie, irgendeinen. Kanada, Europa, Mexico, Asien. Na los, irgendeinen. – Es fällt ihm keiner ein. Nicht einer.

Und genau das macht ihn zum besten Kandidaten dieser Wahl.

Was ist Aleppo?

Natürlich wissen alle, was Aleppo ist. Aleppo ist das Epizentrum der Flüchtlingskrise. Wissenstest bestanden. Nur zur Sicherheit stellen wir uns ein paar Testfragen:

Haben Sie einmal in Aleppo gewohnt?

Haben Sie dort einmal Urlaub gemacht oder gearbeitet?

Sind Sie mit jemandem verwandt oder befreundet, der dort wohnt?

Der dort gewohnt hat?

Der schon einmal dort war?

Aleppo ist inzwischen nicht mehr ein Ort, sondern in erster Linie ein Markenname. Es ist ein Twitter-taugliches Codewort, um einen unglaublich komplexen Sachverhalt auf sechs Zeichen zu verkürzen. Deshalb ist Aleppo-nicht-kennen gleichbedeutend damit, Nutella oder Adidas nicht zu kennen. Es ist unvorstellbar für jemanden, der jeden Tag fernsieht, und deshalb eine unbeschreibliche Blamage. Aleppo ist ein Universalbegriff, den man in Quizsendungen, Kreuzworträtseln und Klausuren mit Lückentexten einsetzen kann.

Aber in dieser Selbstverständlichkeit des Aleppo-Kennens geht unter, dass es fast niemand kennt. Was man kennt, ist ein Scheinbild, das durch die Eigendynamik der Medienwelt entstanden ist. Die Frage an einen Politiker „Was machen Sie bezüglich Aleppo?“ ist die Aufforderung, medientaugliche sound bites abzusondern, die in 30-Sekunden-Häppchen verpackt gesendet werden können. Jeder, für den Aleppo selbstverständlich ist, ist auf die Nutella-Werbung hereingefallen, ohne es zu merken.

Wer sich hingegen mit den Hintergründen zu einem Sachverhalt beschäftigt, der stößt in ganz anderer Zusammensetzung auf ganz andere Begriffe als – nennen wir sie mal so – normale Menschen es tun.

Verfügbarkeitsheuristik und Rekognitionsheuristik

Diese Häufigkeiten, mit denen wir im Alltagsleben auf die verschiedenen Begriffe stoßen, haben einen ganz wesentlichen Einfluss auf unsere Weltwahrnehmung. Das liegt daran, dass unsere Gehirne eine vergleichsweise kleine Rechen- und Speicherleistung haben und wir daher ständig mit Datenkompressionsverfahren arbeiten müssen. Diese nennt man Heuristiken. Man kann eine dieser Heuristiken, die Rekognitionsheuristik (Wiedererkennungsheuristik), an einem einfachen Beispiel erläutern. Beantworten Sie dafür bitte folgende Frage:

Welche Stadt hat mehr Einwohner: Detroit oder Milwaukee?

(Dieses Beispiel stammt aus dem übrigens sehr lesenswerten Buch Risiko von Gerd Gigerenzer.)

90% der Deutschen nennen als Antwort auf die Frage korrekterweise Detroit. Damit liegt der Anteil deutlich höher als bei den Amerikanern, die die korrekte Antwort nur zu 60% schaffen. Dafür tun wir uns beim Vergleich zwischen Bielefeld und Hannover schwerer, als Amerikaner es tun. Woran liegt das?

Es liegt daran, dass wir natürlich nicht die Einwohnerzahlen aller Städte abspeichern, sondern eine Vereinfachung zugrunde legen. Wenn wir von zwei Städtenamen nur einen kennen, dann nehmen wir an, diese Stadt sei größer als die andere. Und meistens stimmt das dann auch, weil man von einer größeren Stadt typischerweise mehr hört als von einer kleinen.

Ebenso schätzen wir die Wichtigkeit von Ereignissen ein. Je häufiger wir von etwas hören, desto wichtiger erscheint es uns. Was in einer Welt der unmittelbaren Erfahrungen eine sehr gute Annäherung ist, wird in einer Welt der Medien aber zu einem gefährlichen Wahrnehmungsfehler. Das hat mit der Erfindung der Sprache angefangen, wurde schlimmer als die ersten Geschichten erzählt wurden, steigerte sich mit Zeitungen und Fernsehen immer mehr und ist seit der Entstehung der interaktiven Medien zu einer kompletten Wirklichkeitsverzerrung geworden.

Datenkompressionsmechanismus

Was ist Ihrer Ansicht nach das derzeit größte Problem für unsere Zukunft? Ich bin mir ziemlich sicher, dass zu dem Zeitpunkt an dem ich diesen Text schreibe, die meisten sagen werden: die Flüchtlingskrise! Meine nächste Frage wird Ihnen wie Blasphemie erscheinen, aber beantworten Sie sie trotzdem einmal: Wann hatten Sie in den letzten sechs Monaten irgendeinen Kontakt mit einem Asylbewerber? Wenn Sie nicht gerade neben einer Unterkunft wohnen, dann werden sich die Kontakte vermutlich auf die S-Bahn oder das Schwimmbad beschränken (beides übrigens Orte, an denen sich Politiker normalerweise nicht aufhalten). In der einzelnen Wahrnehmung kann das außerordentlich stark aus den anderen Erinnerungen hervorstechen, aber der rein zeitliche Kontakt ist mit Sicherheit extrem gering. Die daran gemessen viel höhere Bedeutung in unserer Erinnerung entsteht durch die ständige Kontakthäufigkeit in den Medien. Damit erhält dieses eine Phänomen im Moment eine dramatisch überhöhte Bedeutung, weil der Datenkompressionsmechanismus unseres Gehirns systematisch fehlgeleitet wird.

Für den Fall, dass Sie das für die Worte eines weltfremden Professors halten, stellen Sie sich eine weitere kleine Testfrage: Welche Bedeutung für unsere Zukunft hat die Eurokrise? Hätte ich Ihnen diese Frage vor einigen Jahren gestellt, dann hätten Sie vermutlich geantwortet: „Die Eurokrise ist das Ende unserer Zukunft. Diesmal geht es nicht gut!“ Von der Eurokrise hören wir im Moment aber nicht viel, womit sie aus unserer subjektiven Einschätzung der Wichtigkeit verschwunden ist. Und so steigen die privaten und öffentlichen Schulden weiter, Griechenland macht, was es immer gemacht hat, die Deutsche Bank steht vor der Pleite und wir sind über den Kanal der EZB faktisch in Eurobonds angekommen. Der Euro ist ein Kartenhaus und eine gigantische Enteignungsmaschine. Die objektive Wichtigkeit ist die gleiche wie vor wenigen Jahren, aber unsere Aufmerksamkeit liegt woanders. Deshalb merkt das gerade niemand.

Alles nur, weil unsere Gehirne zu klein sind, um alles zu verarbeiten, und sich deshalb auf Heuristiken verlassen, die in der heutigen Welt nicht gut funktionieren.

Deshalb wünsche ich mir einen echten Außenseiter als amerikanischen Präsidenten, dessen Welt nicht (oder wenigstens anders) durch die allgemeinen Wahrnehmungsfehler geprägt ist. Aber wie stehen Chancen dafür? Vermutlich etwa so hoch, wie die Häufigkeit, mit der wir von Gary Johnson gehört haben.

Die mobile Version verlassen