Tichys Einblick
METZGERS ORDNUNGSRUF 26-2018

Wider die saturierte Gesellschaft – eine Polemik

Wir sind übersättigt und bequem, stellen gleichzeitig immer höhere Ansprüche an andere: den Staat vor allem, aber auch den Arbeitgeber. Ein Zerrbild?

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„Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.“ Das schrieb im Februar 2010 der damalige Außenminister Guido Westerwelle in einem Meinungsbeitrag für die WELT. Vor allem für diesen Satz erntete er einen Sturm der Entrüstung, weil ihm unterstellt wurde, er diskreditiere damit pauschal die Empfänger von Sozialleistungen. Dabei wies er völlig zurecht daraufhin, dass sozialstaatliche Leistungen auf der Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit von Abermillionen Steuerzahlern beruhen. Von den Finanziers sei in Politik und Medien kaum die Rede, viel dagegen von den Empfängern staatlicher Leistungen.

Rainer Hank hat in der FAS vom vergangenen Sonntag in seinem lesenswerten Beitrag „Sind wir noch liberal?“ den Pendelschlag hin zu mehr Staat und weniger Wettbewerb kritisch thematisiert. „Könnte es sein, dass es uns einfach zu gut geht?“, schreibt er. Und weiter: „Wir haben keine Arbeitslosigkeit, kaum Inflation und eine schwarze Null in den Haushalten. Wir leben in der besten aller Welten. Das nimmt den Reformdruck: Von den Sozialausgaben über die Bankenrettung bis zur Energiewende – wir tun so, als ob wir uns alles leisten könnten. Auf Partys, die zu lange dauern, wird man am Ende sehr müde.“

In der Tat: Viel spricht für die These von Hank, dass die Ursache für die Abwendung vom Liberalismus nicht in der Unzufriedenheit, sondern in zu großer Selbstzufriedenheit zu suchen ist. Die Menschen lieben es bequem – von der Wiege bis zur Bahre. Die Kita soll nichts kosten und trotzdem pädagogische Qualität liefern. Studiengebühren, einstens gegen viele Widerstände eingeführt, sind längst flächendeckend wieder abgeschafft. Den Akademisierungswahn lässt sich Deutschland etwas kosten, während händeringend die Facharbeiter in den Handwerksberufen gesucht werden, in denen man für den Meisterbrief wie selbstverständlich Tausende von Euro hinblättern und viele Abende und Wochenenden berufsbegleitend büffeln muss. Die Pflegeversicherung, einst als Teilkaskoversicherung konzipiert, mutiert immer stärker zum Erbenschutzprogramm, weil man der Pflegekasse immer höhere Pflichtaufgaben aufhalst. Dass Asylbewerber, so aussichtslos ihre Anerkennungschancen auch immer sind, deutsche Sozialleistungen erhalten, die sie auch nicht verlieren, wenn sie abgelehnt sind, aber nicht abgeschoben werden, passt ins Bild einer übersatten Gesellschaft. Dass Topmanager mit Millionengehältern aus der Telekommunikationsbranche penetrant für ein bedingungsloses Grundeinkommen werben, damit sich der Plebs auch künftig ihre Smartphones leisten kann, falls die Digitalisierung Jobs kostet, empfinde ich als geradezu obszön.

Obwohl so viele Arbeitsplätze wie noch nie nicht besetzt werden können, im Juli gab es 1,2 Millionen offene Stellen, haben wir bis jetzt rund eine Million Facharbeiter abschlagsfrei in den vorzeitigen Ruhestand mit 63 Jahren ziehen lassen. Freiberuflern, die Rede ist vom Arztberuf, muss man heutzutage als Gesundheitsminister offenbar dafür Geld offerieren (von den beitragszahlenden Krankenkassenkunden), dass sie ihre Praxen länger für ihre Patienten öffnen. Die ohnehin massiv subventionierte Landwirtschaft erwartet Subventionen für ein Produktionsrisiko, das schon immer zum Berufsstand gehörte: das Wetter. Die Staatsdiener, nicht nur die beamteten, erfreuen sich einer Arbeitsplatzsicherheit, die sich in Krankenständen niederschlägt, die in der Berliner Landesverwaltung fast zu einer Verdoppelung der echten Urlaubstage führen.

Arbeitgeber sehen sich zunehmend einer Anspruchshaltung junger Akademiker gegenüber (neudeutscher Euphemismus: „Work-Life-Balance“), denen es in den Bewerbungsgesprächen weniger um betriebliche als um persönliche Belange (Familienplanung und Freizeitansprüche) geht. Unterfüttert wird diese Anspruchshaltung durch eine bürokratische Arbeitsmarktpolitik, die dem Rechtsanspruch auf einen Teilzeitarbeitsplatz jetzt noch einen Rückkehranspruch auf eine Vollzeitbeschäftigung beifügt. Weil daneben auch noch die befristete Beschäftigung eingeschränkt werden soll, fragt man sich, wie ein Unternehmer dann überhaupt noch Personalplanung betreiben soll.

Dass der Staat der bessere Arbeitgeber ist, weil weniger Leistungsdruck bei gleichzeitiger Arbeitsplatzgarantie zu mehr Freizeit dank höheren Krankenstands führt, hat sich bis zu den Berufsanfängern herumgesprochen. Nie waren Stellen beim Staat gefragter als heute, obwohl die Privatwirtschaft zuhauf sehr gut dotierte Positionen anbietet.

Dass Wohlstandsgesellschaften an ihrem Anspruchsverhalten ersticken, weil es auf Dauer keinen „free lunch“ geben kann, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Die individuelle Losung „Ohne Fleiß kein Preis!“ gilt auch für ganze Volkswirtschaften. Ob sich das rechtzeitig im saturierten Deutschland herumspricht?

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