Tichys Einblick
METZGERS ORDNUNGSRUF 33-2020

Wer die Zahl der direkt gewählten Abgeordneten reduziert, zementiert die Parteien-Allmacht

Nach dem Minimalkompromiss zur Wahlrechtsreform wird sich der Trend zu immer mehr Parteisoldaten im Bundestag fortsetzen: Parteiliste statt Direktwahl!

imago/Christian Spicker

Kaum irgendwo manifestiert sich das Eigeninteresse der Parteien so deutlich, wie bei der Unfähigkeit, den übergroßen Deutschen Bundestag endlich wieder auf seine normale Sollstärke von 598 Abgeordneten zu reduzieren. Obwohl sich vordergründig auch die Parteien über die mangelnde Arbeitsfähigkeit eines zu großen Parlaments mokieren, haben sie sich doch ganz schnell an die neuen Pfründe gewöhnt, die zusätzliche Mandate bedeuten. Nicht nur für die einzelnen Abgeordneten, die sich über ein monatliches Bruttoeinkommen aus Diäten von derzeit 10.083,47 € sowie eine steuerfreue monatliche Aufwandspauschale von 4.497,62 € freuen dürfen – nebst DB-Freifahrschein 1. Klasse sowie Kostenersatz für mandatsbedingte Inlandsflüge und Bundestags-Fahrbereitschaft in Berlin. Im Schlepptau jedes MdB arbeiten auch mehrere vom Staat bezahlte Mitarbeiter, für die pro Monat derzeit insgesamt bis zu 22.436 Euro (Arbeitnehmerbrutto) pro MdB zur Verfügung stehen. Die Arbeitgeberbeiträge zu den gesetzlichen Sozialversicherungen kommen noch obendrauf. Außerdem gibt es eine Büromittelpauschale von bis zu 12.000 Euro im Jahr, die gegen Einzelnachweis erstattet wird. Und selbstverständlich wird ein komplett ausgestattetes Bundestagsbüro sowie die IT-Ausstattung im Wahlkreisbüro vom Steuerzahler bezahlt. Es ist wohl kaum übertrieben, wenn die Gesamtkosten eines Abgeordneten samt Personal- und Amtsausstattung mit mindestens 500.000 Euro im Jahr veranschlagt werden.

Laut Bundeswahlgesetz besteht der Bundestag seit der 15. Wahlperiode regulär aus 598 Mitgliedern. 299 Mandate werden durch in der entsprechenden Zahl von Wahlkreisen direkt vom Volk gewählte Abgeordnete bestimmt. Die andere Hälfte der Sollstärke wird mit von den Parteien aufgestellten Listenkandidaten besetzt, die indirekt vom Souverän gewählt werden, weil nicht die Wähler die Listenrangfolge bestimmen, sondern allein die Listenparteitage der jeweiligen Parteien. Durch die immer komplizierter organisierten Ausgleichsmechanismen, die nicht zuletzt auf Verfassungsklagen von kleineren Parteien und der daraus resultierenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beruhen, ist die Sollstärke seit fünf Wahlperioden immer überschritten worden. 2002 waren es erst fünf Abgeordnete mehr, 2005 schon 16, 2009 dann 24 und 2013 schließlich 33. Förmlich explodiert ist die Zahl bei der letzten Wahl 2017, nicht zuletzt wegen der weiteren Aufsplitterung der Parteienlandschaft und der starken Differenz zwischen errungenen Direktmandaten und der relativen Stärke einer Partei. Nicht weniger als 111 Abgeordnete über dem gesetzlichen Soll sitzen derzeit im Bundestag.

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Sind nach dem Bundeswahlgesetz 50 Prozent der Abgeordneten direkt gewählt, so ist dieses Verhältnis ständig zugunsten der Listenkandidaten der Parteien geschrumpft. Heute sind nur noch knapp über 42 Prozent der Abgeordneten direkt gewählt, so wenig wie noch nie. Diese Verschiebung bedeutet eine Machtverschiebung vom nur seinem Gewissen verantwortlichen Abgeordneten zur Parteiorganisation. Wer nicht glaubt, dass es einen Unterschied für das Handeln von Abgeordneten macht, ob sie direkt in einem Wahlkreis gewählt oder auf einem Listenplatz ins Parlament eingezogen sind, dem empfehle ich mal die Abstimmungslisten von namentlichen Abstimmungen zu heiklen politischen Themen im Bundestag aufmerksam zu studieren. Bei keiner Abstimmung in der so genannten Euro-Rettungspolitik kamen die Neinstimmen in der Unionsfraktion von Listen-Abgeordneten. Allesamt stammten sie von direkt in ihren Wahlkreisen gewählten MdBs.

Vielleicht erinnern sich noch manche an den kolportierten Spruch des damaligen CDU-Kanzleramtschefs und heutigen DB-Vorstands Ronald Pofalla, der den aufmüpfigen CDU-Abgeordneten Wolfgang Bosbach wegen seiner Ablehnung des Euro-Rettungsschirms unter Druck zu setzen suchte: „Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen.“ Als der bombensicher direkt im Wahlkreis gewählte Bosbach auf die grundgesetzlich garantierte persönliche Entscheidungsfreiheit des Abgeordneten hinwies, soll Pofalla gekontert haben: „Ich kann den Scheiß nicht mehr hören.“ Ein über die Landesliste gewählter Abgeordneter steht viel unmittelbarer unter dem Druck seiner Partei, weil er aus Angst vor einer Abstrafung und einer Schlechter- oder Nichtplatzierung auf der Landesliste im Interesse einer erneuten Mandatserringung lieber kuscht. Die Parteimitglieder, die im Wahlkreis ihren Direktkandidaten nominieren, goutieren dagegen im Zweifelsfall meist eine fundierte Unbotmäßigkeit eher als die Delegierten eines Landesparteitags.

Wer mehr im Volk verankerte Abgeordnete will, muss deshalb alles daran setzen, dass das Verhältnis zwischen direkt gewählten Wahlkreisbewerbern und Listen-Abgeordneten mindestens halbe-halbe bleibt. Sonst wird ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg in den Parteienstaat zementiert. Der Minimalkompromiss, auf den sich die Koalitionsspitzen von Union und SPD jetzt geeinigt haben, wird zwar die Wahlkreise bei der nächsten Bundestagswahl noch nicht reduzieren. Doch wenn die Nachrichten stimmen, wollen sie mit der Opposition gemeinsam noch in dieser Wahlperiode die Zahl reduzieren: auf 280. Da FDP, Grüne und Linkspartei, die alle nur über wenige (oder keine) Direktmandate verfügen, auch eine Wahlkreisverkleinerung (auf 250) anstreben, ist von dort leider keine Gegenwehr zu erwarten.    

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