Ich weiß: Subjektive Erlebnisse darf man nie verallgemeinern. Bahnvorstandschef Richard Lutz mühte sich bei Plasbergs „hart aber fair“ am vergangenen Montag ja redlich, die traurige anekdotische Empirie vieler Bahnreisenden statistisch zu neutralisieren, sprich zu beschönigen. Doch ein Verkehrssystem, das im Zuge der Klimaschutz-Debatte zum Rückgrat einer „Verkehrswende“ verklärt wird und im kommenden Jahrzehnt Milliarden zusätzliche Fahrgäste befördern soll, weil Autofahrer Zug um Zug zu Bahnkunden mutieren, muss sich schon heute tagtäglich dem Realitäts-Check stellen.
Auch wenn ich als Bahnvielfahrer gelegentlich Tage erlebe, an denen die Züge pünktlich sind, das Bordrestaurant ohne Einschränkungen geöffnet hat und selbst die meisten Toiletten funktionieren, vermittelt doch meine Reisereportage von diesem Dienstagabend hoffentlich einen Eindruck davon, wie sehr die Deutsche Bahn heruntergewirtschaftet ist. Dieser Verkehrsträger, der schon heute Abermilliarden Euro Steuergelder verschlingt, wird auch mit vielen weiteren Steuermilliarden nicht zum ökologischen Rückgrat der grünen „Verkehrswende“.
Mein Plan: Ich fahre am frühen Dienstagabend um 17:50 Uhr mit dem ICE von Frankfurt nach Ulm, steige dort in den Schienenersatzverkehr (Streckensperrung wegen Elektrifizierung) der Südbahn nach Laupheim um und gelange schließlich mit einer Regionalbahn von dort nach Ravensburg, das ich um 21:48 Uhr erreiche. Schon während der Konferenz, an der ich in Frankfurt teilnehme, verfolge ich glücklicherweise bereits ab 16:30 Uhr auf der DB-Navigator-App, wie sich die Bahn-Verkehrslage entwickelt. Für meinen ICE ist zu diesem Zeitpunkt bereits eine viertelstündige Verspätung angezeigt, die meinen Anschluss in Ulm gefährdet. Also entscheide ich mich, früher zu fahren. Aus alter Erfahrung hatte ich mir ein 1. Klasse Flex-Ticket gekauft, um keine feste Zugbindung zu buchen.
Ein Taxi bringt mich noch so rechtzeitig zum Hauptbahnhof, dass ich einen ICE nach Stuttgart erreichen kann, der fahrplanmäßig um 17:06 Uhr abfährt. Doch der hat – wie zu diesem Zeitpunkt nach meinem Eindruck fast alle Fernzüge – eine Verspätung von gut zwanzig Minuten. Der Zug ist gut besetzt und weil ich keine Reservierung habe (die gebuchte ist ja mit dem ursprünglich geplanten Zug verfallen), setze ich mich ins überheizte Bordrestaurant, das gut gefüllt, aber nicht bewirtschaftet ist.
Andere Fahrgäste erzählen, dass kein Personal dafür da ist und wohl erst hier in Frankfurt zusteigt. Doch das ist nicht der Fall, so dass mein geplantes Abendbrot im ICE ersatzlos ausfallen muss. Das Bordrestaurant in einem gut besetzten Fernzug zur Feierabendzeit bleibt also auf der ganzen Fahrstrecke komplett geschlossen. Das einzige kulinarische Vergnügen auf der Fahrt sind kleine Schokotäfelchen, die ein aufmerksamer Zugbegleiter ausnahmsweise auch an die Fahrgäste im Bordrestaurant verteilt. Die Stimmung bei den vielen Gästen, die meisten Berufspendler, grenzt an routinierten Fatalismus: Alltag bei der Deutschen Bahn eben! Im Laufe der Fahrt über Frankfurt/Flughafen und Mannheim nach Stuttgart addiert sich die Verspätung weiter auf rund 30 Minuten. Ständig verfolge ich auf der Bahn-App, wie sich die Anschlusslage in Stuttgart entwickelt. Ich muss ja von dort weiter nach Ulm.
Unterwegs kommt plötzlich die Durchsage, dass der IC in Geislingen an der Steige einen Sonderhalt einlegen wird, um Fahrgäste aufzunehmen. Die Fahrgäste sollten bitte die Sitze vom Gepäck freimachen (eigentlich eine Selbstverständlichkeit!), um für zusteigende Fahrgäste Platz zu schaffen. In Geislingen steigen dann Massen von Menschen zu, die in einem EC mit Stromausfall im dortigen Bahnhof gestrandet sind. Kurz danach die Zusage des IC-Chefs: „Alle Reisenden aus dem EC sollten sich bitte im Wagen 10 einfinden, wo sie ein Getränk nebst dem Formular für die Fahrpreiserstattung von 25% abholen können. Darauf haben Sie Anspruch, weil Ihre Verspätung jetzt mehr als 1 Stunde beträgt.“
Durch den Sonderhalt erhöht sich natürlich auch unsere Verspätung, so dass ich in Ulm erst um 20.22 Uhr ankomme. Mein Schienersatzverkehr-Bus (SEV) nach Laupheim ist bereits weg. Weil Durchsagen für die Weiterfahrt Richtung Bodensee am Bahnhof Ulm unterbleiben und auch kein Personal am Bahnsteig den Weg weist, lese ich unterwegs einige irritierte Fahrgäste auf und lotse sie zum SEV-Halteplatz. Wenigstens fährt bereits innerhalb einer knappen halben Stunde ein weiterer Bus, mit dem ich in Laupheim um 21:28 Uhr dann einen Regionalexpress nach Ravensburg erreichen kann. Der Zug steht schon am Gleis bereit. Als ich einsteige und die Toilette aufsuchen will, klärt mich eine resolute Zugbegleiterin auf: „Alle Toiletten in diesem Zug sind defekt. Der kommt nach dieser Fahrt in die Werkstatt.“
Ich fürchte für die anschließende knapp dreiviertelstündige Fahrt schon das Schlimmste, als die plötzlich sympathische DB-Mitarbeiterin nach Rücksprache mit dem Lokführer schließlich dafür sorgt, dass alle, die ein Bedürfnis verspüren, vor der Abfahrt noch die Toilette nutzen dürfen. Dafür lohnt sich dann auch eine um wenige Minuten verspätete Abfahrt. Statt um 21.40 Uhr, wie ursprünglich gebucht, bin ich schließlich um 22.15 zuhause in Ravensburg.
Quintessenz:
1. Wenn einer eine Reise mit der DB macht, dann kann er was erzählen.
2. Ohne meine Vielfahrerroutine und die intensive APP-Nutzung wäre ich mit großer Wahrscheinlichkeit erst gut eineinhalb Stunden später zuhause gewesen. Glücklicherweise war ich nur mit kleinem Gepäck unterwegs und deshalb hochmobil.
3. Wer glaubt, die Bahn könne eine massive Verkehrsmengenverlagerung auf die Schiene leisten, verkennt die traurige Realität. Selbst mit einhundert Milliarden Euro wird dieses komplexe Verkehrssystem nicht so ertüchtigt werden können, dass es auch nur eine Verdoppelung, geschweige denn eine Verdreifachung des heutigen Passagieraufkommens verkraftet.
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