Alle vier Jahre findet in Deutschland eine Verdienststrukturerhebung statt, eine große Unternehmensbefragung mit Daten von rund 60.000 Betrieben, die regelmäßig vom Statistischen Bundesamt ausgewertet wird. Die jetzt veröffentlichten und aktuellsten Daten beziehen sich auf das Jahr 2018. Die Ergebnisse räumen mit einer politischen Erzählung auf, die vor allem in linken und grünen Kreisen seit vielen Jahren Konjunktur hat. Dort wird mit penetranter Impertinenz behauptet, dass sich die Lohnunterschiede zwischen Niedrig- und Besserverdienern ständig vergrößerten.
Dass die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns einen entscheidenden Einfluss auf diese Entwicklung hatte, ist nicht von der Hand zu weisen. Der Anteil der Beschäftigten, die weniger als 10 Euro je Stunde verdienen, sank von 7,6 Millionen Arbeitnehmern im Jahr 2014 auf 4,4 Millionen im Jahr 2018. Besonders ausgeprägt war dieser Rückgang in Ostdeutschland. Dort sank die Quote der Beschäftigten mit Stundenlöhnen von weniger als 10 Euro von 35 Prozent im Jahr 2014 auf 18 Prozent im Jahr 2018. Der gesetzliche Mindestlohn startete im Jahr 2015 mit 8,50 Euro je Stunde. Zum Zeitpunkt der Erhebung im Jahr 2018 lag er bei 8,84 Euro. Heute liegt er bei 9,35 Euro in der Stunde und steigt bis auf 10,45 Euro im Jahr 2022.
Bei der Einführung des gesetzlichen Mindestlohn warnten Arbeitgeberverbände und eine Reihe von Ökonomen vor steigender Arbeitslosigkeit durch Löhne, die über der Produktivität von gering qualifizierten Arbeitnehmern liegen. Die Sorge vor steigender Arbeitslosigkeit war zwar im vergangenen Jahrzehnt unbegründet, weil das deutsche Beschäftigungswunder immer mehr Menschen in den Arbeitsmarkt integrierte. Dass die Befürchtungen der Wirtschaft aber nicht wirklich unbegründet sind, belegt eine Betrachtung der Monats- und Jahreslöhne. Im Gegensatz zu den Stundenlöhnen schlägt sich dort die Verbesserung kaum nieder. Denn die höheren Stundenlöhne wurden erkauft durch geringere Arbeitszeiten.
In der Corona-Rezession, die ja ganz stark auch in den Dienstleistungsberufen (Gastronomie, Handel etc.) zuschlägt, wird sich jetzt erst recht zeigen, dass auf Dauer keine Löhne zu bezahlen sind, die über der Produktivität der Mitarbeiter liegen. Nicht nur mit geringeren Arbeitszeiten werden die Betriebe in der Krise reagieren, sondern auch mit Entlassungen, die für den Zeitraum der jüngsten Verdiensterhebungsstruktur überhaupt keine Rolle spielten. Dass Grüne, Linke und SPD ohne Rücksicht auf Verluste aber weiter an ihrem Narrativ stricken, belegt stellvertretend die Reaktion der Grünen Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, die nach den Zahlen des Statistischen Bundesamts in einer Pressemitteilung umgehend einen Anstieg des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro verlangte: „Der Mindestlohn wirkt, aber muss stärker steigen.“
Der Zusammenhang von Produktivität und Lohnhöhe wird konsequent ausgeblendet. Das wird sich erst recht in den kommenden Jahren rächen, in denen die ökonomischen Wachstumsraten real stagnieren dürften. Linke sollten sich aber auch fragen, ob die Nivellierung zwischen Gering- und Besserverdienern tatsächlich sozialen und wirtschaftlichen Segen bringt. Wenn Besserverdiener im Osten gerade mal das 2,8-Fache von Geringverdienern an Einkommen erzielen, dann hält sich der erforderliche Leistungsanreiz, ohne den eine funktionierende Gesellschaft nicht auskommt, doch sehr in Grenzen. Das gleiche gilt übrigens auch für die Ausgestaltung sozialer Transferleistungen. Je höher diese ausfallen, umso schwieriger wird für Geringqualifizierte der selbstverdiente Ausstieg aus dem Hartz IV-Bezug. Und für Besserverdiener wird es umgekehrt immer teurer, diesen Sozialstaat mit Abgaben und Steuern finanzieren zu helfen. Wer die Leistungsbereitschaft unten wie oben unterminiert, wird aber keinen Wohlstand mehr ernten.