Tichys Einblick
METZGERS ORDNUNGSRUF 41-2021

Zur Rentenerhöhung: Wie man die Generationengerechtigkeit mit Füßen tritt

In der Klimapolitik wird die Generationengerechtigkeit postuliert, in den Sozialversicherungen ausgeblendet: Die Jubelmeldung über die geplante Rentenerhöhung von mehr als fünf Prozent im kommenden Jahr mag die Alten erfreuen. Die Jungen sollte sie aber aufschrecken.

Symbolbild

IMAGO / Panthermedia

Es dokumentiert vor allem das ökonomische Analphabetentum im Land, dass gestern in Nachrichtensendungen und Medien diese Meldung bejubelt wurde und prominent platziert war: Voraussichtlich steigen die gesetzlichen Renten zum 1. Juli 2022 in Westdeutschland um 5,2 und in Ostdeutschland um 5,9 Prozent. Die höchsten Rentensteigerungen seit Jahrzehnten wurden verkündet, doch die Kehrseite der Medaille in der Berichterstattung weitgehend unterschlagen. Nach der Nullrunde im letzten Juli (zumindest in Westdeutschland) mag die Nachricht auch taugen, um die inflationsgeschädigten Rentnerkohorten zu besänftigen.

Doch wäre sich die Großeltern-Generation bewusst, dass die Zeche dieser Rentensteigerung die jüngeren Generationen über höhere Beiträge und Steuern zu berappen haben, dann würde manche Großmutter und mancher Großvater vielleicht doch nachdenklich. Denn ihren Enkeln und Kindern wollen die meisten nicht zur Last fallen. Kaum irgendwo ist in diesen Tagen zu lesen, dass allein die Aussetzung des Nachholfaktors, der von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil im Jahr 2018 nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit vorgenommen wurde, erheblich zu dieser heutigen Rentnerbegünstigung beiträgt. Gälte er noch, wie in den Jahren von 2009 bis 2018, dann würde die Rentenerhöhung 2022 wohl nur zwischen 2,5 und 2,8 Prozent betragen, hat der Kronberger Kreis errechnet, dem renommierte Ökonomen wie Lars Feld, Clemens Fuest oder Justus Haucap angehören.

Gutachten zur Rentenreform
Olaf Scholz und Hubertus Heil reagieren auf das Rentendesaster mit Ignoranz und Arroganz
Olaf Scholz hatte in seiner Amtszeit als Bundesarbeitsminister während der Finanzkrise 2009 eine „Rentengarantie“ umgesetzt, mit der verhindert werden sollte, dass die Rentenbezüge gekürzt werden, wenn die Löhne der Beschäftigten in einer Wirtschaftskrise sinken. Parallel dazu hatte er aber diesen sogenannten „Nachholfaktor“ als Korrektiv ins Rentenrecht eingefügt, damit in einer wieder anziehenden Konjunkturlage die dann möglichen Rentenerhöhungen höchstens halb so hoch ausfallen wie nach der Rentenanpassungsformel eigentlich vorgesehen – und zwar so lange, bis die durch die „Rentengarantie“ vermiedene Kürzung ausgeglichen ist. Prof. Berthold Wigger, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen, redet Klartext: „Das derzeitige Aussetzen des Nachholfaktors kommt einer Manipulation der Rentenformel zulasten der jüngeren Generationen gleich.“
Versicherungsbeiträge und Bundeszuschüsse kennen nur eine Richtung: Sie steigen

Ein aktuelles Gutachten der Ökonomen Martin Werding (Universität Bochum) und Thiess Büttner (Universität Erlangen-Nürnberg), das für den Spitzenverband der Privaten Krankenversicherungen erstellt und über das im Handelsblatt berichtet wurde, bestätigt erneut, was nahezu alle Experten immer wieder befürchten. In der kommenden Wahlperiode werden die Beiträge zur Renten-, Arbeitslosen-, Kranken- und Pflegeversicherung von aktuell knapp 40 Prozent auf 43,2 Prozent steigen, sollte die künftige Ampel-Regierung nicht auf der Ausgabenseite gegensteuern. Dass damit wohl kaum zu rechnen ist, belegte bereits das gemeinsame Sondierungspapier von SPD, Grünen und FDP. Denn ausdrücklich wurden etwa das Rentenniveau und das heutige gesetzliche Renteneintrittsalter festgeschrieben – Zusagen, die angesichts der Alterspyramide unserer Gesellschaft steigende Beiträge und höhere Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt unter Garantie erzwingen. Werding und Büttner prophezeien in ihrem Gutachten für das Ende des Jahrzehnts einen Gesamtsozialversicherungsbeitrag von 45 Prozent. Die Steuerzuschüsse aus dem Bundeshaushalt müssten in diesem Zeitraum ebenfalls kräftig steigen – von heute 144 Milliarden Euro auf 179 Milliarden Euro im Jahr 2030.

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Dass die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) überhaupt nicht in der Lage wäre, die monatlichen Renten allein mit dem Beitragsaufkommen der Versicherten zu gewährleisten, ist seit vielen Jahrzehnten bekannt. Schließlich trägt sie auch eine erhebliche Last an versicherungsfremden Leistungen. Doch die Steuerzuschüsse wachsen inzwischen vor allem deshalb so überdurchschnittlich, weil Politiker die demografischen Kosten nicht generationengerecht zwischen Alten und Jungen verteilen. Die älteren Kohorten sind die größte und wichtigste Wählergruppe der meisten Parteien. Sie will man vor Einschnitten bewahren. Dabei formuliert selbst ein bedächtiger Jurist wie Prof. Rainer Schlegel, Präsident des Bundessozialgerichts, die Problemlage präzise: „Denn wenn wir heutige Sozialleistungen auf Pump finanzieren und Tilgung sowie Zinszahlungen auf die Zukunft verlagern, lassen wir künftige Generationen für unseren heutigen Konsum bezahlen.“

Mit seiner Entscheidung vom Mai dieses Jahres hat das Karlsruher Bundesverfassungsgericht in der Klimapolitik das Primat der Generationengerechtigkeit betont. Dabei wird die härteste nationale Klimapolitik die Erderwärmung nicht mindern, schon gar nicht kurzfristig, wenn nicht andere Staaten ähnlich engagiert mitmachen. In der Sozialpolitik, wo positive wie negative Folgen recht unmittelbar die Portemonnaies der Bürgerinnen und Bürger treffen, würde man sich eine so harte Nachhaltigkeits-Mahnung des höchsten deutschen Gerichts nur zu gern wünschen. Doch auf dem Feld der Finanz-, Haushalts- und Sozialpolitik überlassen die Verfassungsrichter dem Gesetzgeber in aller Regel einen riesigen Ermessensspielraum und damit alle großzügigen Freiheiten.

Gesundheit und Pflege: Der Appetit auf Bundeszuschüsse wächst gewaltig

Erstmals vor 17 Jahren, im Haushaltsjahr 2004 in einer Konjunkturkrise, erhielt die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) einen Zuschuss aus dem Bundeshaushalt. Die Summe lag beim Einstieg bei einer Milliarde Euro. Schon fünf Jahre später – in der Finanzmarktkrise – sind daraus 7,2 Milliarden Euro geworden, im Jahr danach sogar 15,7 Milliarden. Obwohl der gewaltige Beschäftigungsaufbau im letzten Jahrzehnt immer höhere Beitragseinnahmen generierte, haben eine Fülle von Leistungsverbesserungen die Krankenkassenausgaben weiter gesteigert. Seit 2017 ist deshalb ein jährlicher GKV-Bundeszuschuss von 14,5 Milliarden Euro gesetzlich festgeschrieben. Die Corona-Pandemie diente als Begründung für eine Aufstockung auf über 21 Milliarden Euro im laufenden Jahr. Für 2022 soll der Bundeszuschuss um weitere 7 Milliarden Euro auf dann 28,5 Milliarden Euro erhöht werden, um zu vermeiden, dass die Versicherungsbeiträge signifikant steigen.

Aufschieben IST KEINE Lösung
Rentenkassen vor dem Kollaps - doch statt Konzepten nur beruhigende Schönfärberei
Dass Corona für vieles als Begründung herhalten muss, zeigt auch dieser phänomenale Aufwuchs, der den Bundeshaushalt massiv belastet und Investitionen verdrängt. Die GKV führt selbst nur 20 Prozent ihrer aktuellen Defizite auf die Pandemie zurück. Maßgeblich für die immensen Ausgabensteigerungen sind nach ihren Aussagen die teuren Leistungsreformen der vergangenen Jahre, die von Union und SPD beschlossen wurden. Sollten Einnahmen und Ausgaben der Krankenversicherung auch in Zukunft wie im Schnitt der letzten zwei Jahrzehnte wachsen, dann sind im Jahr 2030 bereits 80 Milliarden Euro an jährlichem Bundeszuschuss notwendig, um die Beitragssätze stabil zu halten.

Ein drittes Fass ohne Boden macht der Gesetzgeber in der gesetzlichen Pflegeversicherung auf. Weil der ursprünglich als Teilkaskoversicherung konzipierte Sozialversicherungszweig, der auf Subsidiarität und familiale Solidarität gesetzt hat, von den Sozialpolitikern immer stärker zur Vollkaskoversicherung umgebaut wird, beansprucht auch die Pflegeversicherung bereits einen niedrigen Milliardenzuschuss aus dem Bundeshaushalt. Wer sich die wohlfeilen Versprechen der Politik – von der besseren Bezahlung der Pflegekräfte bis zur Abschaffung der Selbstbeteiligung im Pflegefall – vor Augen führt, kann sich leicht ausmalen, dass die Bundeszuschüsse für die Pflegeversicherung bald explodieren werden.

Der Sozialstaat wird sich in dieser Konstruktion bald als Illusion erweisen. Der Gegenwartskonsum an Sozialleistungen überlastet die Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft schon längst und hängt wie ein Mühlstein um den Hals der nachwachsenden Generationen.

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