Peter Sloterdijk ist unorthodox. Er pointiert mit polemischer Schärfe den wuchernden Fiskalstaat, der analog zur Ausdehnung der Staatstätigkeit seine Eingriffe in das Bevölkerungsvermögen beständig ausgeweitet hat. Zehn Jahre nach seinem aufsehenerregenden Essay „Die Revolution der gebenden Hand“ in der FAZ legt er jetzt in der Neuen Zürcher Zeitung mit einer kritischen Reflektion über die real existierende Demokratie nach, die sich für ihn vornehmlich als Oligokratie und Fiskokratie ausprägt. Der beziehungsreiche Titel: „Wer befiehlt, bezahlt nicht.“
Auf furiose und teilweise süffisante Weise nähert sich Sloterdijk seinem Credo, dass das demokratische Gleichheitspostulat doch so seine Tücken habe. „Es sind auch in der Staatsform der Volksherrschaft stets einige wenige, die über die vielen anderen herrschen.“ Und ebenso seien es „auch einige andere wenige, die das Leben der anderen vielen zu wesentlichen Teilen mitfinanzieren.“ Er erinnert an die alten Ständegesellschaften, in denen sich die wenigen (hoi oligoi) als Aristokraten per Geburt rekrutierten oder per Berufung als Klerus. Die beiden ersten Stände machten zu ihrer Blütezeit maximal drei Prozent der Gesamtpopulation aus. Für den übergroßen Rest, die vielen (hoi polloi), wurde im vorrevolutionären Frankreich 1789 die Devise der „vollständigen Nation“ ausgegeben. Von dieser Überhöhung bis zum mordlustig fröhlichen Refrain „Die Aristokraten an die Laternen“ war es nach Sloterdijks historischer Kurzanalyse dann nicht mehr weit. Auch sein Verweis auf Berthold Brechts traurig-prägnante Formulierung: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. – Aber wo geht sie hin?“ belegt seine Volksherrschafts-Skepsis.
Sloterdijks Revolutionsfazit: Nicht in den Turbulenzen am 14. Juli 1789 in Paris oder im Beschluss der Abgeordneten zur Aufhebung der Monarchie am 22. September 1792 manifestierte sich „das Phänomen einer breiten und glaubwürdigen Mehrheit demokratischen Stils“, sondern „sein authentisches historisches Debüt“ erlebte es am 28. Juli 1794, dem Tag, als das Terrorregime Robespierres mit dessen Hinrichtung endete. Weil Zehntausende von Zeugen aller Stände und Parteien die Hinrichtung verfolgten und dem Scharfrichter lange 15 Minuten Beifall zollten, als er Robespierre enthauptet hatte, wertet Sloterdijk diesen Moment als womöglich einziges Ereignis in der Geschichte Europas (abgesehen von der allgemeinen Zustimmung zur Niederwerfung des Hitler-Regimes im Mai 1945), „als die wenigen und die vielen eines Landes sich nahezu ausnahmslos zu einer gemeinsamen Überzeugung bekannten.“
In Sloterdijks Zeitraffer traten sich dann in der nachrevolutionären Gesellschaft nicht mehr Adel und Volk gegenüber, sondern die Reichen und die Armen. Schon die Frühsozialisten schufen im frühen 19. Jahrhundert das erfolgreiche Narrativ, dass die neue Demokratie nichts anderes sei „als die Konspiration einer kleinen wohlhabenden Minderheit gegen die übergroße Mehrheit der Unbemittelten, ja mehr noch, eine ausbeuterische Koalition der unproduktiven wenigen gegen die produktiven vielen.“ Die marxistische Bewegung machte sich diese Lesart zu eigen und formulierte den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Obwohl sich Reste dieses Verdachts in der antiliberalen Folklore bis heute erhalten haben, mussten viele wohl oder übel zur Kenntnis nehmen, dass „der moderne Reichtum als Resultat von innovationsgetriebener und kreditbasierter Unternehmenskultur entsteht“. Obwohl deshalb die Arbeiterklassenromantik längst in sich zusammengefallen ist, hat sich das Ressentiment gegen „die Reichen“ als langlebige Größe erwiesen.
Abschließend folgt sein Verweis auf den immer gefräßiger werdenden Fiskalstaat. Er bemüht Thomas von Aquins bereits im Jahr 1274 formuliertes Paradoxon, dass Steuern eine Art von „legalem Raub“ seien. Er erinnert an Benjamin Franklin, einen der Unterzeichner der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, der im Jahr 1789 apodiktisch notierte: Nur zwei Dinge gebe es in der Welt, die als sicher gelten dürfen: den Tod und die Steuern.
Während im Mittelalter Steuern nur von Fall zu Fall und aufgrund außergewöhnlicher Notstände eingeworben wurden, wurden sie zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert zu einer bleibenden Einrichtung, „die von der Kollektivpsyche als ebenso verhasst wie unumgänglich wahrgenommen wurde“, wie Sloterdijk formuliert. Mit einem Sprung in die Neuzeit, dem Verweis auf die „Schlachtrösser der modernen Fiskalität“, der progressiven Einkommensteuer und der universellen Konsumsteuer (Mehrwert- oder Umsatzsteuer), die beide im Lauf des 20. Jahrhunderts zu kolossalen Staatseinnahmen führten, ohne die der moderne Sozialstaat überhaupt nicht finanzierbar wäre, endet Sloterdijks Essay in einer subversiven These, die für sich selbst spricht:
„Demnach lässt sich plausibel erklären, warum die real existierende Fiskokratie unter dem Pseudonym der Demokratie sich heute mehr denn je einer bequemen Prosperität erfreut: Wenn schon die Tätigkeit des Fiskus im Allgemeinen von einer quasinatürlichen Unpopularität begleitet wird, gewinnt sie doch die Zustimmung der Mehrheiten, sobald sie sich als das geeignete Mittel erweist, die Schafe mit den längeren Haaren zu scheren.“