Tichys Einblick
METZGERS ORDNUNGSRUF 08092021

Olaf Scholz fummelt an der Schuldenbremse

Die Leitungsebene des Finanzministeriums sucht eifrig nach Möglichkeiten, wie die Schuldenbremse ohne formelle Grundgesetzänderung umgangen werden kann.

IMAGO / Reiner Zensen

Ausgabebeschränkungen sind für viele Politiker ein Horror, zumal in Wahlkampfzeiten, in denen sie gern milliardenschwere Versprechungen ins politische Schaufenster stellen: ob für Investitionen, für soziale Leistungen oder Subventionen für wichtige Wählergruppen. Deshalb lässt der SPD-Kanzlerkandidat und amtierende Bundesfinanzminister derzeit in seinem Haus ausloten, wie sich die im Grundgesetz verankerte Kreditaufnahmebeschänkung trickreich umgehen lässt. Aus heutiger Sicht grenzt es fast an ein Wunder, dass es eine solche Schuldenbremse vor 12 Jahren überhaupt ins Grundgesetz geschafft hat. Denn schließlich waren es Politiker, die sich 2009 im Bundestag und Bundesrat mit der erforderlichen Zweidrittel-Mehrheit die Kreditfinanzierung der öffentlichen Haushalte beschränkten. In Art. 109, Abs. 3 GG findet sich der entscheidende Satz: „Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen.“ Die Regelung griff ab 2011 und führte dazu, dass sich Deutschlands hohe Staatsverschuldung nach der Finanzkrise 2009 innerhalb eines Jahrzehnts von rekordträchtigen fast 82 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf knapp unter 60 Prozent im Jahr 2019 reduzierte. Umgangssprachlich steht die „Schwarze Null“ für diesen gelungenen Konsolidierungspfad, ohne den die gigantischen Konjunkturpakete in der Corona-Krise nicht möglich gewesen wären.

Schaut man sich die Schuldenregel genauer an, dann legt sie die Länder auf eine echte Nullverschuldung fest, während sie dem Bund ein kleines Kreditfenster von bis zu 0,35 Prozent des BIP im Jahr zugesteht. Um konjunkturelle Schwankungen auszugleichen, gibt es eine Korrekturkomponente, damit in der Rezession die automatischen Stabilisatoren wirken können. Und es gibt eine Ausnahmeregelung für Naturkatastrophen, die der Bundestag aber jeweils ausdrücklich beschließen und mit einem konkreten Tilgungsplan versehen muss. In der Corona-Pandemie wurde diese Ausnahmeregelung bereits zweimal gezogen: 2019 und 2020. Auch für das kommende Jahr plant der Bundesfinanzminister erneut mit dieser Ausnahmeregelung, obwohl etwa die Bundesbank in ihrem letzten Monatsbericht bestreitet, dass ein solcher Schritt noch einmal erforderlich ist. Der Haushalt berge eine große Rücklage, argumentiert die Bundesbank, eine Überschreitung der Schuldengrenze sei deshalb keineswegs zwingend.

Linke, Grüne und SPD gegen, Union, FDP und AfD für die Schuldenbremse

In der letzten Bundestagssitzung in dieser Wahlperiode spielte die Schuldenbremse in den Reden der Spitzenpolitiker durchaus eine Rolle. Bekenntnisse für ihren dauerhaften Erhalt gab es allerdings nur von der FDP und indirekt von CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet, weil er den Erfolg der schwarzen Null pries. Der Bundesfinanzminister umschiffte das Thema, indem er zwar die Konsolidierungserfolge des vergangenen Jahrzehnts als Voraussetzung für die aktuell möglichen und nötigen dreistelligen Milliardensummen zur Corona-Pandemiebekämpfung erwähnte, gleichzeitig aber eine Investitionsoffensive und teure neue Sozialleistungen versprach. Wie das mit der Einhaltung der Schuldenbremse vereinbar sein soll, darüber schwieg er. Die Grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock votierte dagegen offen für eine Modifikation der Schuldenregel, um ein riesiges Klimaschutz-Investitionsprogramm auflegen zu können. Die Linke verlangt in ihrem Wahlprogramm die komplette Abschaffung der Schuldenregel, in der SPD ist diese Forderung bekanntermaßen ebenfalls sehr populär. Die AfD dagegen will an der grundgesetzlichen Verankerung der Schuldenbremse festhalten.

Wer Adam Riese beherrscht, kann sich leicht ausrechnen, dass mit dieser Positionierung der Parteien die von Linken, Grünen und Sozialdemokraten gewünschte Abschaffung oder Modifizierung der Schuldenbremse im Grundgesetz keine Mehrheit findet. Union, FDP und AfD garantieren selbst bei ganz schlechten Wahlergebnissen eine deutliche Ein-Drittel-Sperrminorität im Bundestag. Spannend wird allerdings die Frage, welchen Druck die Länder in naher Zukunft auf die Bundespolitik entfalten, für die ja ein absolutes Kreditaufnahmeverbot gilt. Weil die Vorbelastungen der künftigen Haushalte auch wegen des demografischen Wandels massiv zunehmen – die notwendigen Steuerzuschüsse für Rente, Gesundheit und Pflege wachsen rasant, ebenso die Pensionslasten- und Beihilfeausgaben für die Beamtenschaft – und hohe Transformationskosten wegen der allseits beschworenen Klimaschutzpolitik anstehen, wird die Politik aber Mittel und Wege finden, die Fußfesseln der Schuldenbremse zu lockern: auch ohne formelle Grundgesetzänderung.

„Kreative“ Umgehungstatbestände oder Rechtsbruch?

Das widerspricht zwar dem klaren Sinn und Zweck dieser Verfassungsnorm. Aber bei der Überdehnung von Konsolidierungsregeln braucht man nur nach Brüssel zu schauen. Ob Maastricht-Vertrag oder europäischer Fiskalpakt: Papier ist geduldig und der Rechtsbruch längst zur Regel geworden. Die Ministerialbeamten im Bundesfinanzministerium haben für Scholz bereits mehrere „kreative“ Umgehungstatbestände in den Blick genommen. Wie wird die Unterauslastung der Volkswirtschaft definiert? Geht man von einer Vollauslastung statt bisher der Normalauslastung als Bemessungsgrundlage des Regelfalls aus, dann gibt es so gut wie immer eine Unterauslastung, womit sich höhere Schulden rechtfertigen ließen. Doch diese Manipulation wäre doch sehr offensichtlich und angreifbar.

Eine andere Möglichkeit besteht in der Gründung einer vom Bund unabhängig geführten Investitionsgesellschaft, die eigene Kredite aufnehmen darf. Denn dann werden deren Kreditaufnahmen nach europäischem Recht nicht dem Staat zugeordnet. Armin Laschet hat dafür in der Vergangenheit bereits Sympathien erkennen lassen, auch die Grünen denken in diese Richtung. Auf diesen Pfad lassen sich vielleicht die unterschiedlichsten Parteien locken, obwohl eine vom Bund unabhängige Investitionsgesellschaft vom Parlament, dem Haushaltsgesetzgeber, nur schwer zu kontrollieren ist. Mit „Haushaltsklarheit und -wahrheit“ hat ein solcher Nebenhaushalt auch nicht mehr viel zu tun. Außerdem stellt sich die Frage, was man unter Investitionen versteht. Fallen nur Sachinvestitionen unter diesen Begriff oder auch die unzähligen Finanzierungshilfen, die der Bund großzügig streut. Von rund 60 Milliarden Euro investiven Ausgaben in diesem Jahr etwa entfallen gerade mal 8 Milliarden auf Sachinvestitionen.

Wer die mittelfristige Finanzplanung von Scholz analysiert, stellt auf einen Blick fest, dass die Spielräume für die unterschiedlichen Wahlversprechen gleich Null sind. Ob die Abschaffung des Rest-Solidaritätszuschlags, eine höhere Mütterrente, eine Absenkung oder gar Abschaffung der EEG-Umlage, höhere Verteidigungsausgaben oder die Deckelung der Sozialversicherungsbeiträge, die höhere Steuerzuschüsse erfordern – alles steht objektiv unter Finanzierungsvorbehalt, was nach der Wahl ein parteiübergreifendes Bedürfnis nach kreativen Lösungen, sprich die Umgehung der Schuldenregel, provozieren wird. Auf dem Papier hält die mittelfristige Finanzplanung die Schuldengrenze nur deshalb ein, weil der Bundesfinanzminister ab 2023 die derzeitige Rücklage von 50 Milliarden Euro bis 2025 komplett auflöst.

Verschärfend wirken sich ab 2023 die Tilgungsverpflichtungen aus den gewaltigen Kreditaufnahmen in der Corona-Pandemie aus. Sie starten im übernächsten Jahr mit noch bescheidenen 2 Milliarden Euro, wachsen dann aber ab 2026 auf rund 20 Milliarden Euro pro Jahr auf und belasten dann jedes Haushaltsjahr bis einschließlich 2042. Deshalb fokussieren sich die Überlegungen im BMF derzeit auch auf das Thema Tilgungsstreckung. Läßt sich die Rückzahlung der Corona-Kredite nicht auf die lange Bank schieben und damit „weginflationieren“? Noch halten Ökonomen wie der frühere Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Prof. Lars Feld, argumentativ dagegen. Wie er der FAZ sagte, „sollte die Tilgung innerhalb von 25 Jahren möglich sein“. Doch man darf Wetten darauf abschließen, dass dieser Zeitraum gewaltig gedehnt wird – egal, wer demnächst in Berlin regiert.

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