Dass der Chef des Bundeskanzleramts einen Gastbeitrag im Handelsblatt schreibt oder schreiben lässt, der nicht mit der Kanzlerin und ihrem Stab abgestimmt ist, kann ernsthaft niemand glauben. Vor allem dann nicht, wenn in diesem Text so nebenbei ein Kernthema der Union abgeräumt wird. Helge Braun, der sich mit seiner Dauerpräsenz in den TV-Talks immer stärker im Corona-Hamsterrad verheddert, spricht sich unmissverständlich für einen längeren Ausstieg aus der grundgesetzlichen Schuldenbremse aus. Er plädiert unzweideutig für eine Änderung der Verfassung, will also die derzeitige Ausnahmeregelung, die in Notfallsituationen aktiviert werden kann, entfristen. Der Bundestag hat die Notfallausnahmesituation in der Corona-Pandemie für die Jahre 2020 und 2021 beschlossen und damit einer mehrhundertfachen Milliarden-Neuverschuldung den Weg geebnet. Weil diese Schulden in einem definierten Zeithorizont verbindlich wieder getilgt werden müssen, kapituliert das Kanzleramt bereits prophylaktisch. Braun schreibt: „Die Schuldenbremse ist auch bei ansonsten strenger Ausgabendisziplin nicht einzuhalten.“ Und weiter: „Deshalb ist es sinnvoll, eine Erholungsstrategie für die Wirtschaft in Deutschland mit einer Grundgesetzänderung zu verbinden, die begrenzt für die kommenden Jahre einen verlässlichen degressiven Korridor für die Neuverschuldung vorschreibt.“
In der Unions-Fraktion, die heute Nachmittag tagt und an der erstmals auch der neue Parteivorsitzende Armin Laschet teilnimmt, werden dagegen die Wogen hoch gehen. In ersten Reaktionen hagelte es breite Kritik vom für Finanzen zuständigen stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Andreas Jung bis zum Unions-Chefhaushälter Eckhard Rehberg. Auch MIT-Chef Carsten Linnemann ist erklärter Gegner einer Aufkündigung der Schuldenbremse. Der Generalsekretär des Wirtschaftsrats empört sich darüber, dass die Union mit Brauns Neupositionierung eines ihrer letzten Markenzeichen preisgeben würde. Merkels Regierungssprecher Steffen Seibert dagegen lässt lapidar verlauten, bei Brauns Vorstoß handle es sich um einen „persönlichen Meinungsbeitrag“.
Eine inhaltliche Distanzierung der Kanzlerin sieht anders aus. Sie wird damit womöglich noch eine erneute Kehrtwende der Union ermöglichen, die unser Land weit in die Zukunft belasten wird. Denn wer die Schranken für die Staatsverschuldung, die aus gutem Grund 2006 nach langen Auseinandersetzungen Eingang in unsere Verfassung fanden, wieder öffnen will, macht sich erneut vom süßen Gift der Staatsverschuldung abhängig, verschiebt Gegenwartslasten in die Zukunft, untergräbt das Vertrauen in die Stabilität unserer Währung, schürt Inflationsgefahren und baut weiter ungeniert an einem sozialpolitischen Wolkenkuckucksheim, das auf Schuldentreibsand gebaut ist.
Eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag wäre nötig, um die Schuldenbremse im Grundgesetz abzuschaffen oder zu verändern. Ohne die 246 Abgeordneten der Unionsfraktion ist diese Mehrheit derzeit nicht zu erreichen, selbst wenn alle anderen Abgeordneten dafür stimmten. Das wäre aber bei der FDP wie der AfD zu bezweifeln. Grüne, SPD und Linke dagegen warten nur auf das Umfallen der Union.