„An den Märkten wird Zukunft gehandelt.“ Oder: „Der Markt hat immer recht.“ Sprüche wie diese prägten Generationen von Händlern an den Finanzmärkten. Doch warum hält sich dann der DAX deutlich über 10.000 Punkten, obwohl Deutschland, Europa und der gesamten Weltwirtschaft infolge der Corona-Pandemie der größte ökonomische Absturz seit einem Jahrhundert bevorsteht? An der New Yorker Börse halten sich die Kurse gegenüber den Vorkrisen-Höchstständen sogar relativ besser als in Europa. Dabei müssen immer mehr Firmen ihre Ergebnisprognosen drastisch absenken, liegen die in den aktuellen Börsenkursen eingepreisten Gewinnerwartungen für die Unternehmen nach wie vor viel zu hoch. Von einer bis zu 40-prozentigen Überbewertung gehen Fachleute aus. Hat der Markt also immer recht?
Die Ölpreise dagegen sind im freien Fall. Auch wenn der historisch einmalige Negativpreis der vergangenen Woche ein technisch erklärbarer Ausrutscher gewesen sein mag: Der dramatisch niedrige Ölpreis scheint die Aktienmärkte als realistischeres Konjunkturbarometer abzulösen. Denn wo die Weltwirtschaft lahmt und die Reservelager so voll sind wie noch nie, wird künftig deutlich weniger Öl nachgefragt. Ein Nachfragesektor, der Flugverkehr, kämpft um sein Überleben. Die Lufthansa etwa braucht bis zu 10 Milliarden Euro Staatshilfe, um den Shutdown der Pandemie zu bewältigen. Und sie droht gar mit Insolvenz, um zu verhindern, dass die staatliche Unterstützung mit einem starken politischen Einfluss gekoppelt wird. Staatsbeteiligung für die Unterstützung ja, aber mit einem klaren und definierten Ausstiegsszenario, damit aus einem befristeten Staatseinstieg nicht ein Dauerzustand entsteht wie bei der Commerzbank, deren Staatsbeteiligung noch 11 Jahre nach der Finanzkrise Bestand hat. Die privatisierte Lufthansa war vor dem erzwungenen Shutdown eine gut aufgestellte und profitable Airline. Das sollte auch so bleiben. Politiker sind nicht die besseren Unternehmer.
Wo Staatspapiere keine Zinsen bringen, weil die Notenbanken den Zins abgeschafft haben, da suchen sich die Anleger an den Aktienmärkten und im Immobiliensektor ihre Renditen. Das treibt die Preise ins Unermessliche und nimmt ihnen gleichzeitig ihre Funktion als werthaltiges Abbild zukünftiger Ertragshoffnungen. Muss man in den nächsten Jahren also den Ölpreis als wichtigstes Zukunftsbarometer im Auge behalten, weil er die Rezession viel realistischer abbildet als die Börsen? Dabei wird der Ölpreis politisch ebenfalls stark beeinflusst, sollte der Klimaschutz auch nach der Corona-Pandemie die gleiche Aufmerksamkeit erfahren wie im vergangenen Jahr. Denn billiges Öl macht auch dem CO2-Emissionshandel zu schaffen, weil er die Vermeidungskosten senkt und damit die Zertifikate billiger macht. Das provoziert garantiert politische Interventionen.
Not täte ein reinigendes Gewitter an den Börsen, um die Kurse wieder näher an die Unternehmensrealität heranzuführen. Die Investoren wünschen sich das natürlich nicht. Aber dieser Realitätsschock ist auch deshalb mehr als überfällig, damit endlich in den börsennotierten Unternehmen wieder mehr Phantasie auf produktive Wertschöpfung als auf Kurspflege durch Aktienrückkäufe gelegt wird. Doch zu befürchten ist, dass wir darauf noch lange warten müssen. Denn Vorbedingung für ein solches Szenario ist die Normalisierung der Geldpolitik. Und die gibt in der Corona-Krise gerade erst wieder richtig Vollgas.