Deutschland ist ein Land, das aus den Trümmern eines verbrecherischen Krieges zu ungeahntem Wohlstand aufstieg. Das geteilte Land konnte bis zur Wiedervereinigung in einem gigantischen Feldversuch über mehr als vier Jahrzehnte zwei unterschiedliche Wirtschaftsmodelle testen, dessen Ergebnis sehr eindeutig ausfiel. Der DDR-Staatssozialismus scheiterte grandios, während das soziale Marktwirtschaftsmodell der BRD sogar die ökonomische Herkulesaufgabe der „Wiedervereinigung“ schultern konnte.
Doch je länger der Untergang der DDR zurückliegt und je mehr sich selbst die älteren Westdeutschen nicht mehr an Ludwig Erhards legendäres Buch-Manifest „Wohlstand für Alle“ erinnern können, in dem er 1957 seine Vorstellungen der sozialen Marktwirtschaft niederschrieb, desto stärker scheint der Glaube an den allzuständigen Staat zu werden, der immer ungenierter in den Markt eingreift. Walter Eucken, Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft und Begründer der Freiburger Schule des Ordoliberalismus, formulierte einst die konstitutiven Prinzipien für eine gute Wirtschaftspolitik: Respekt für die Eigentumsrechte und die Vertragsfreiheit; eine stabile Währung; Wettbewerb und die Betonung der privaten Haftung.
Heute gewinnt man den Eindruck, die Tarifhoheit der Tarifpartner sei ein Auslaufmodell. In die Lohnfindung mischen sich Politiker ein, indem sie etwa Mindestlöhne verordnen oder Tarifverträge branchenweit durch „Allgemeinverbindlichkeitserklärung“ durchsetzen. Der Gesetzgeber verteuert das Bauen permanent durch immer höhere Auflagen, die Gemeinden verknappen das Baulandangebot. Die Länder halten sich über immer höhere Grunderwerbsteuern schadlos. Und alle wundern sich, dass das Bauen und damit auch die Mieten immer teurer werden. Jetzt hilft vermeintlich nur noch der Staat mit der Mietpreisbremse oder gar mit Enteignung, wie es in Berlin jetzt durch ein Volksbegehren eingefordert wird. Zustim-mung und Sympathien dafür gibt es bis zum Grünen Bundesvorsitzenden Robert Habeck. Die deutsche Energiewende-Politik ist staatliche Planwirtschaft aus Absurdistan: Gemessen am CO2-Ausstoß ökologisch gescheitert und für Verbraucher und Unternehmen so teuer wie sonst nirgendwo auf dem Globus.
Die D-Mark war eine Hartwährung, die wie eine Produktivitätspeitsche für unsere Volkswirtschaft wirkte. Der Euro ist zu einer Weichwährung geworden, die manchen Branchen fast anstrengungslose Exporterfolge zu Lasten der technologischen Innovationsfähigkeit beschert. Die gewaltigen ökonomischen Divergenzen im Euro-Währungsraum und die Geldpolitik der Notenbank haben zweierlei Konsequenzen: Politisch haben sie die Zentrifugalkräfte in der EU verstärkt. Gleichzeitig haben die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank und ihre gigantischen Staatsanleihenkäufe der Politik Reformen erspart. Der Euro ist wackliger denn je und die Euro-Zone längst zur Transferunion mutiert. Subsidiarität und Eigenverantwortung waren gestern, das „No-Bail-out“-Versprechen ist längst perdu.
Obwohl Deutschland durch eine selbständige unternehmerische Mittelschicht geprägt ist und über annähernd 1.500 „hidden champions“ genannte mittelständische Weltmarktführer verfügt, will die Politik unternehmerischen Wettbewerb behindern und staatlich gelenkte Großindustriepolitik forcieren. Als ob der Staat je der bessere Unternehmer gewesen wäre oder gar zielgenauer als der Markt technologische Präferenzen durchsetzen könnte.
Notwendig ist stattdessen eine marktwirtschaftliche Kehrtwende, die den langfristigen Wohlstand unseres Landes sichert, indem sie unternehmerischen Schöpfergeist fördert und die Menschen befähigt, ihr Leben in Freiheit und Eigenverantwortung zu führen. Der Staat hat nur für einen Ordnungsrahmen zu sorgen, der fairen Wettbewerb und die Freiheit der Bürger auf dem Markt garantiert. Die bürokratische Überregulierung vieler Lebensbereiche ist fatal. Die Förderung öffentlicher Großunternehmen, die uns der Wirtschaftsminister als Industriepolitik verkauft, wird zur Oligopolbildung beitragen und den Wettbewerb auf dem inländischen oder europäischen Markt behindern.
Ich liste einige Kernbereiche auf, in denen dringende und kurzfristige Kurskorrekturen anstehen:
In der Sozialpolitik muss der Subsidiaritätsgedanke im Vordergrund stehen: Hilfe zur Selbsthilfe, aber keine Daueralimentation! Dazu gehört die Beibehaltung von Bedarfsprüfungen – im Hartz IV-System wie bei der Grundsicherung im Alter. Das gebietet auch der Respekt vor den vielen Millionen Menschen, die mit ihren Sozialabgaben und Steuern diese sozialen Leistungen für Bedürftige finanzieren. Außerdem müssen die Transfersysteme immer so ausgestaltet sein, dass sie die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit begünstigen und nicht – wie heute – faktisch mit weniger Einkommen bestrafen.
Die Altersversorgungssysteme (Renten und Pensionen) geraten in die demografische Falle, da mit Beginn des nächsten Jahrzehnts die „Babyboomer“ sukzessive in den Ruhestand treten. Immer weniger erwerbsfähige Jahrgänge müssen für immer mehr Ruheständler aufkommen. Eine generationengerechte Politik muss deshalb auf teure neue Leistungszusagen an die Ruheständler verzichten. Die Sonderprivilegien des Beamtenstatus gehören auf den Prüfstand und Änderungen im Rentenrecht wirkungsgleich auf die Ruhestandsbeamten übertragen. Eine Anhebung des Renteneintrittsalters, die automatisch an die steigende Le-benserwartung gekoppelt wird, darf kein Tabu sein.
Vor dem Verteilen kommt das Erwirtschaften! In der Steuerpolitik tritt der Staat dieses alte Erhard’sche Credo mit Füßen. Statt den Bürgern mehr von den Früchten ihrer Arbeitsleistung zu belassen, greift er vor allem bei der leistungsfähigen Mittelschicht immer brutaler zu. Die Abgabenquote aus Steuern und Sozialabgaben ist in Deutschland vor allem für Singles rekordträchtig hoch und erdrosselt zunehmend die Leistungsbereitschaft. Die komplette Abschaffung des Solidaritätszuschlags ist für mich ein Gebot der politischen Glaubwürdigkeit. Ich plädiere aber auch für eine deutliche Erhöhung der oberen Proportionalzone, um den progressiven Einkommensteuertarif abzuflachen und den Mittelstandsbauch zu beseitigen. Im Interesse der jüngeren Generationen ist ein prozentualer Kostendeckel für die Sozialabgaben gesetzlich festzuschreiben, um eine weitere Aufblähung der Ausgaben zu ihren Lasten zu erschweren. Auch das Unternehmenssteuerrecht ist so anzupassen, dass Deutschland international konkurrenzfähig bleibt.
In der Klimaschutzpolitik, die vor allem die Energie- und Verkehrspolitik tangiert, plädiere ich für marktwirtschaftliche Lösungen, nicht für kurzsichtigen Staatsdirigismus. Höhere Preise der CO2-Emissionszertifikate oder gar eine CO2-Steuer mit einem langfristigen und planbaren Erhöhungspfad würden ökologisch und ökonomisch effizienter wirken als die verkorkste deutsche „Energiewende“-Politik. Der Amoklauf gegen den Diesel ist klima- wie industriepolitischer Unsinn. Auch die einseitige Industriepolitische Privilegierung der E-Mobilität könnte sich als ebensolcher Irrweg erweisen. Der Staat sollte das Rahmenziel setzen, die CO2-Reduktion, aber nicht den technischen Weg anstelle des Marktes vorgeben.
Investition statt Konsumtion! Unter dieser Überschrift treibt der ordoliberale Staat Zukunftsvorsorge. Die beste Sozialpolitik ist eine Bildungspolitik, die von der Kita bis zur dualen Ausbildung und den Hochschulen in die Köpfe investiert und das lebenslange Lernen propagiert. Nur mit einer in der Breite wie in der Spitze gut ausgebildeten Bevölkerung wird sich Deutschland in der globalen und digitalen Welt weiter vorne behaupten können. Dass auch Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur wie in die digitalen Netze dafür unabdingbare Voraussetzung sind, versteht sich von selbst.
Mit Ludwig Erhard will ich abschließen:
„Wo kein Wettbewerb lebendig ist, tritt notwendig ein Stillstand ein, der schließlich zu einer allgemeinen Erstarrung führt.“ (Erhard, 1957)