Auf Silvester hatten sich viele Grüne gefreut. Denn an diesem Tag wurden drei der letztverbliebenen sechs Atommeiler im Land abgeschaltet. In der Neujahrsnacht twitterte Sven Giegold, inzwischen als Staatssekretär aus dem Europaparlament in Robert Habecks Wirtschafts- und Klimaministerium nach Berlin gewechselt, freudetrunken: „Dezentrale erneuerbare Energien ersetzen nun Atomkraft, Kohle & Erdgas. Endlich!“
Die Lernkurve der Grünen wird steil
Der Ökosiegel-Vorschlag der EU-Kommission für die Kernkraft entlarvt einen Wunschtraum der Grünen. Europa will eben nicht am grünen deutschen Wesen genesen.
Dass vor Mitternacht des alten Jahres ausgerechnet die deutsche EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen diese grüne Illusion platzen ließ, als sie den Mitgliedstaaten den Taxonomie-Vorschlag der EU-Kommission zustellte, in dem aus Klimaschutzgründen die Kernkraft und auch die Erdgasnutzung mit dem Öko-Siegel der Nachhaltigkeit versehen werden, hätte Giegold mit seinen Brüsseler Insider-Kenntnissen eigentlich wissen müssen. Aber so wie er bauen sich viele Grünen-Politiker ideologische Wolkenkuckucksheime, die dann von der Realität entzaubert werden.
Und genau so ist es gekommen. Die EU-Energiepolitik wird nicht mit grünen deutschen Maßstäben gemessen. Die Mehrheit der EU-Staaten tickt energiepolitisch anders. Dem deutschen Sonderweg – dem Doppelausstieg aus Kernkraft und Kohle – folgen nur wenige, wenn man von Luxemburg und Österreich mit ihrem Protest gegen das Nachhaltigkeits-Testat für die Kernkraft absieht.
Opposition ist Mist
„Opposition ist Mist“, gilt als geflügelte Botschaft, seit sie der Sozialdemokrat Franz Müntefering einst formulierte. Die Grünen machen nach 16 Jahren Oppositions-„Mist“ bereits nach wenigen Wochen in der Bundesregierung die Erfahrung, dass man mit Illusionen zwar opponieren, aber wohl nicht regieren kann. Sie üben sich beim Thema Taxonomie in der Rolle, lautstark Kritik zu üben und auf diese Weise böse Miene zu einem Spiel zu machen, das schon vor längerer Zeit verloren war. Denn je ehrgeiziger auch auf grünen politischen Druck hin die Klimaschutzziele in Deutschland und in der EU verschärft wurden, desto irrealer wurde die deutsche Vorstellung, dass man die Energieversorgung eines Industrielandes binnen eines Jahrzehnts vor allem auf volatile Energieträger wie Wind und Sonne stützen kann.
Gegen das von der EU geplante Nachhaltigkeits-Privileg für Erdgas erheben die Grünen ebenfalls ihre Stimme. Dabei haben sie vor wenigen Wochen einen Koalitionsvertrag unterschrieben, in dem zu lesen ist: „Wir beschleunigen die Errichtung moderner Gaskraftwerke.“ Für eine Übergangszeit sei Erdgas, wiewohl nachweislich alles andere als klimafreundlich, einfach unverzichtbar, weil regenerative Energiequellen weder in ausreichender Zahl vorhanden sind noch entsprechende Speicherkapazitäten für Dunkelflautezeiten zur Verfügung stehen. Nicht nur Melanie Amann fragt sich im SPIEGEL vollkommen zu recht, ob die Grünen überhaupt gelesen haben, was sie mit SPD und FDP vertraglich verabredet haben.
Erzwingt die Regierungsbeteiligung, dass die Grünen die Energie-Realität akzeptieren?
Schon nach wenigen Wochen müssen die Grünen schmerzhaft erfahren, wie steil die Lernkurve in der Regierung sein kann. Ob sie den Kernkraft-Rubikon beim Thema Energiepolitik tatsächlich je überschreiten werden, steht allerdings in den Sternen. Andererseits: Verstanden sich die Grünen nicht einst als „Anti-Parteien-Partei“, die den außerparlamentarischen Widerstand zwar in die Parlamente tragen, aber auf keinen Fall regieren wollte? Diese Systemoppositionsrolle endete Mitte der achtziger Jahre mit der ersten grünen Regierungsbeteiligung in Hessen, als mit Joschka Fischer ein Mann mit Turnschuhen als Umweltminister vereidigt wurde.
Wer erinnert sich noch an den Pazifismus der Grünen, an ihre langjährige Ablehnung der NATO? Doch die Mehrheit der Fraktion befürwortete gleich zu Beginn der rot-grünen Regierungszeit 1998 den NATO-Einsatz im Kosovo. Bei einem legendären Parteitag in Bielefeld bekam Außenminister Fischer zwar einen roten Farbbeutel an den Kopf geworfen, doch die Mehrheit der Delegierten stimmte schließlich dem Einsatz zu.
Und auch das gehört zur Lernkurve der Grünen: Waren sie einst fest im rot-grünen Lager verankert, befreiten sie sich aus dieser strategischen Falle, als sie auch Bündnisse mit der CDU zu schmieden begannen. Durch den Absturz der Union ist diese strategische Öffnung der Grünen derzeit zwar machtpolitisch gefährdet. Trotzdem ist sie Beleg dafür, dass man die Anpassungsfähigkeit – Kritiker würden wohl eher von Opportunismus reden – dieser Partei nicht unterschätzen sollte.
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