Während jetzt erstmals in der rot-grün-gelben Dreierrunde sondiert wird, die Deutschland in grüner Lesart eine „Fortschrittserzählung“ bescheren will, machen sich Finanzfachleute in Berlin vor allem Gedanken darüber, wie die vielfältigen Ausgabenwünsche der drei potentiellen Regierungsparteien mit den nicht vorhandenen finanziellen Ressourcen des Staates in Einklang gebracht werden können. Denn im Gegensatz zur letzten Regierungsbildung vor vier Jahren, als in den Koalitionsverhandlungen angesichts der Überschüsse in den Sozialversicherungen, hoher Steuerschätzungen und immer niedrigeren Zinsen fast alle teuren Wünsche erfüllt werden konnten, ohne die grundgesetzliche Schuldenbremse zu verletzen, ist jetzt Ebbe im Staatshaushalt. Die Corona-Pandemie und vor allem die großzügige Ausweitung der Leistungsgesetze in der Renten-, Pflege- und Krankenversicherung in den Zeiten der Großen Koalition haben die Rücklagen schmelzen lassen wie Eis in der Sonne. Während die Konjunktur damals rund lief, trüben sich heute fast im Wochenrhythmus die Erholungsprognosen nach der Pandemie ein. Die Industrieproduktion stürzt aktuell ab – nicht nur wegen der gestörten Lieferketten und des Chipmangels, der vor allem den Fahrzeugbau trifft. Die zunehmend galoppierende Inflation trübt zudem die Konsumentenstimmung, weil deren Kaufkraft schwindet.
In der Union, die sich nach 16 Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit erstmals wieder in der Opposition findet – mit der AfD zur Rechten und der Linken zur Linken – , herrscht angesichts der Finanzlage, die sie allerdings unter Kanzlerin Angela Merkel selbst mit verursacht hat, so etwas wie Schadenfreude. „Wenigstens muss ein Kanzler Scholz jetzt die Suppe selbst auslöffeln, die er mit seiner schrankenlosen Großzügigkeit als Finanzminister angerichtet hat“, ätzte gestern ein CDU-Abgeordneter im Hintergrundgespräch. Doch allein mit Schadenfreude oder Galgenhumor ist der desaströsen Finanzlage des Staates nicht zu begegnen. Während die meisten Kommentatoren in den Medien derzeit vor allem darüber spekulieren, wo sich Sozialdemokraten, Grüne und Liberale wechselseitig „gangbare Brücken“ bauen können, was im Klartext meist nichts anderes heisst, als welche teuren Wünsche der einen Partei mit dem Ja zu den teuren Wünschen der anderen Partei bezahlt werden, will ich in zwei Kernpunkten die objektive Ressourcenknappheit skizzieren.
Die Nöte der Sozialversicherungen
Kein Land der Welt wird in diesem Jahrzehnt eine so rasant steigende Last der Alterung tragen müssen wie Deutschland. Ohne Rücksicht auf diese objektive Tatsache haben SPD und Union mit der Mütterrente, der abschlagsfreien Rente für langjährig Versicherte ab 63 Jahren, der doppelte Haltelinie bei Beitragssatz und Rentenniveau sowie der Grundrente die Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung in den vergangenen beiden Legislaturperioden so erhöht, dass die Steuerzuschüsse aus dem Bundeshaushalt am Ende der aktuellen Finanzplanungsperiode bereits auf über 125 Milliarden Euro im Jahr steigen – rund 30 Prozent aller Ausgaben des Bundeshaushalts. Unter Gesundheitsminister Jens Spahn wurde der Bundeshaushalt zunehmend auch für die steigenden Ausgaben der Kranken- und Pflegeversicherung in Anspruch genommen. 2022 soll allein die Krankenversicherung nach bisheriger Planung mehr als 20 Milliarden Euro an Zuschuss aus dem Bundeshaushalt erhalten. Auch die Mehrausgaben in der Pflegeversicherung soll der Bundeshaushalt mit einem Milliardenzuschuss abdecken helfen.
Wer Adam Riese beherrscht, kann sich leicht ausrechnen, dass zusätzliche Leistungen noch mehr Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt erfordern – oder höhere Sozialversicherungsbeiträge, die direkt spürbar das Nettoeinkommen der Beschäftigen senken und die ohnehin hohen Arbeitskosten in Deutschland erhöhen. Verteilungsspielräume für Mehrausgaben gibt es schlicht nicht. Stattdessen wären Reformen notwendig, die Ausgaben begrenzen: von einer an die steigende Lebenserwartung gekoppelten Erhöhung des Renteneintrittsalters, einem Verzicht auf die doppelte Haltelinie in der Rente bis zu sozial verträglicher Selbstbeteiligung in der Kranken- und Pflegeversicherung.
Es ist kaum zu erwarten, dass Sozialdemokraten und Grüne diese Reform-Melodie anstimmen. Aber wenigstens die FDP sollte die jüngeren Menschen – gerade vor dem Hintergrund ihres großen Zuspruchs bei Jungwählern – mit der traurigen Wahrheit konfrontieren, dass sie die Zeche für die sozialpolitische Begünstigung der Älteren in Euro und Cent zu bezahlen haben. Denn wer noch sein ganzes Erwerbsleben vor sich hat, zahlt eine hohe Zeche: Allein für die Rentenpolitik der vergangenen Großen Koalition sind pro Erwerbsjahr ein Leben lang rund 1.000 Euro jährlich mehr fällig.
Die Schuldenbremse wird ausgehebelt: Via EU-Kreditaufnahme und Schattenhaushalt?
Die Verhinderungsmacht des kleinsten Partners in der Ampel wird nicht ausreichen, hohe Mehrausgaben im Koalitionsvertrag zu verhindern. Auch wenn die FDP als liberale Trophäe die Vermögenssteuer verhindern kann und vielleicht sogar die Soli-Abschaffung in Stufen zusätzlich zum Finanzministerium offeriert bekommt, wird ein liberaler Bundesfinanzminister dann die Umgehung der Schuldenregel im Grundgesetz exekutieren müssen. Ein gigantischer Investitionshaushalt wird als eigenständiges Sondervermögen außerhalb des Bundeshaushalts organisiert und mit eigener Kreditermächtigung ausgestattet (Schattenhaushalt). Und der Umweg über Europa wird von SPD und Grünen wohl auch ins Kalkül gezogen. Beide Parteien plädieren ohnehin für eine Fiskalunion. Das entscheidende Einfallstor dafür ist mit dem EU-Wiederaufbaufonds bereits im vergangenen Jahr geschaffen worden. Ein Paket im Volumen von ursprünglich 750 Milliarden Euro darf erstmals mit eigenen EU-Krediten ausgestattet werden. Obwohl die Mitgliedsstaaten für die Kredite haften, wird dessen Verschuldung nicht auf die nationalen Schuldenstände angerechnet.
Deutschland wird sich unter sozialdemokratischer Führung ganz gewiss auch dieses EU-Umwegs bedienen, um seine Kreditbedürfnisse befriedigen zu können. Denn für eine Abschaffung der grundgesetzlichen Schuldenregel wird sich im Bundestag bis auf weiteres keine 2/3-Mehrheit finden lassen, wenn die oppositionelle Unionsfraktion wie auch die AfD-Fraktion bei ihrer Nein-Position bleiben. Die FDP kann ja dann behaupten, die Schuldenregel formell beibehalten zu haben, auch wenn sie womöglich ein liberaler Finanzminister Christian Lindner augenzwinkernd in rot-grünem Auftrag umgehen wird.