Der politische Druck war einfach zu groß, dem sich das Karlsruher Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in den letzten Wochen ausgesetzt sah. Die Botschaft, die hinter und vor den Kulissen intoniert wurde, lautete: Deutschland wird in Europa am Pranger stehen, falls der „Next Generation EU“-Wiederaufbaufonds (NGEU) scheitert, weil das Bundesverfassungsgericht das am 25. März im Bundestag mit großer Mehrheit verabschiedete Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz (ERatG) per einstweiliger Anordnung auf Monate, wenn nicht auf Jahre stoppt. Dann werde es heißen: Das reiche Deutschland verweigert die Solidarität, um Italien, Spanien und anderen EU-Staaten, die wirtschaftlich dramatisch unter der Corona-Pandemie leiden, aus der Krise zu helfen. Mit seinem „Hängebeschluss“ hatte der 2. Senat zumindest vorläufig die Unterzeichnung des deutschen Zustimmungsgesetzes auf Antrag des „Bündnis Bürgerwille“ durch den Bundespräsidenten gestoppt, was einen Tag nach der riesigen Bundestagsmehrheit schon als kleine Sensation galt.
Doch heute Vormittag kommt die ernüchternde Botschaft aus Karlsruhe: Der Eilantrag ist abgelehnt, weil sich bei „summarischer Prüfung … eine hohe Wahrscheinlichkeit für einen Verstoß gegen Art. 79 Abs. 3 GG allerdings nicht feststellen“ lässt. Einen substanziellen Angriff auf die Verfassungsidentität des Grundgesetzes, um den es in diesem Artikel geht, hatten die Beschwerdeführer aber genau gerügt. Obwohl die Richter auch in ihrer heutigen Entscheidung noch einmal bekräftigen, dass die Verfassungsbeschwerde des „Bündnis Bürgerwille“ weder „von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet“ ist, scheuen die Verfassungsrichter einen Stopp im Eilverfahren. Denn sollte sich die Verfassungsbeschwerde im späteren Hauptverfahren als unbegründet herausstellen, dann würden die Folgen eines vorläufigen Stopps schwerer wiegen, als wenn jetzt eine einstweilige Anordnung zwar abgelehnt, das Gericht im Hauptsacheverfahren aber doch die Verfassungswidrigkeit des ERatG feststellen würde.
Wer sich in die Begründung der heutigen Entscheidung des BVerfG vertieft, wird ein schillerndes „Sowohl-als-auch“ herauslesen können, auch eine gewisse politische Blauäugigkeit der Richter: „Höhe, Dauer und Zweck der von der Europäischen Kommission aufzunehmenden Mittel sind daher ebenso begrenzt wie die mögliche Haftung Deutschlands. Die entsprechenden Mittel sind zudem ausschließlich zur Bewältigung der Folgen der COVID-19-Krise einzusetzen. Eine zusätzliche Kreditaufnahme durch die Europäische Union ist nicht vorgesehen.“
Angesichts der Tatsache, dass der deutsche Bundesfinanzminister, aber auch die französische EZB-Präsidentin in den vergangenen Monaten öffentlich ihre Sympathie für eine dauerhafte EU-Kreditfinanzierung bekundet haben (die EU-Südschiene ohnehin!), verschließen hier die Richter die Augen vor der europapolitischen Realität. Ausnahmen sind noch immer schnell zur Regel geworden. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof nannte nicht zu Unrecht die Geschichte des Euro „eine Geschichte des permanenten Rechtsbruchs“. Dass sowohl das Verschuldungsverbot der EU durch das NGEU-Paket mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro verletzt, als auch die sogenannte Nichtbeistands-(„No bail out“)-Klausel, beides wesentliche Grundlagen der deutschen Zustimmung zu den Verträgen von Maastricht und Lissabon, durch das ERatG tangiert wird, ist für das BVerfG jedenfalls „nicht ausgeschlossen“ und wird im Hauptsacheverfahren geprüft.
Andererseits lässt sich aus der heutigen Ablehnungsbegründung eine klare Tendenz der Richter für das Hauptsacheverfahren herauslesen, wenn es um die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestags geht, die wegen der Zahlungsverpflichtungen und Haftungsübernahmen für die EU unterlaufen werden könnte und damit mit einem wesentlichen Grundpfeiler der nationalen Verfassungsidentität kollidiert: „Der Senat hat bisher nicht entschieden, ob und inwieweit sich unmittelbar aus dem Demokratieprinzip eine justiziable Begrenzung der Übernahme von Zahlungsverpflichtungen oder Haftungszusagen herleiten lässt. Dabei kommt es mit Blick auf das Demokratieprinzip nur auf eine evidente Überschreitung von äußersten Grenzen an. Eine unmittelbar aus dem Demokratieprinzip folgende Obergrenze könnte allenfalls überschritten sein, wenn sich die Zahlungsverpflichtungen und Haftungszusagen im Eintrittsfall so auswirkten, dass die Haushaltsautonomie jedenfalls für einen nennenswerten Zeitraum nicht nur eingeschränkt würde, sondern praktisch vollständig leerliefe, wobei der Gesetzgeber namentlich mit Blick auf die Frage der Eintrittsrisiken und die zu erwartenden Folgen für die Handlungsfreiheit des Haushaltsgesetzgebers über einen weiten Einschätzungsspielraum verfügt.“
Wer darauf setzt, dass die Verfassungsrichter den Marsch in den europäischen Schuldenzug stoppen, macht sich falsche Hoffnungen. Die harsche Kritik, die sich das BVerfG mit dem letztjährigen Urteil zu den Anleihekäufen (Bundesverfassungsgericht – Presse – Beschlüsse der EZB zum Staatsanleihekaufprogramm kompetenzwidrig) einhandelte, wirkt. Das Gericht sucht den Anschluss an die politische Realität. Und die politischen „Eliten“ marschieren in Deutschland in Richtung eines europäischen Zentralstaats.