Die vierspaltige Überschrift, mit der das liberal-bürgerliche Schweizer Leitmedium, die Neue Zürcher Zeitung in einem großen Aufmacher ihre Leser kurz vor dem Jahreswechsel konfrontierte, ist so bitter wie richtig: „Es muss uns zuerst schlechter gehen.“ Traurig ist diese Aussage für uns alle, ob Regierende oder Regierte, ob Unternehmer oder Arbeitnehmer, ob Produzenten oder Konsumenten, ob Journalisten oder Leser: Vorausschauendes und vernünftiges Handeln scheint im permanenten Widerspruch zu den Mechanismen des politischen Betriebs zu stehen – auch und gerade in demokratischen Systemen, in denen das Volk als Souverän die Regierenden auch abwählen kann.
Damals, nach einer langen Phase des wirtschafts- und sozialpolitischen Reformstillstands, galt Deutschland zu Recht als „kranker Mann“ Europas. Doch der sozialdemokratische Bundeskanzler nutzte die Krise zu einer arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Kehrtwende, die das Arbeitgeberlager verwunderte, die Gewerkschaften verstörte und die linke Volkspartei SPD in eine existenzielle Krise stürzte. Die Wähler goutierten die Reformpolitik der SPD nicht. Sie verlor erst ihr Kernland Nordrhein-Westfalen und dann die vorgezogenen Bundestagswahlen 2005. Außerdem erntete sie eine neue linke Konkurrenzpartei.
Der damals liberalisierte Arbeitsmarkt wurde und wird in einem Ausmaß rereguliert, das einem gerade angesichts der bevorstehenden Digitalisierungsoffensive (künstliche Intelligenz ersetzt menschliche Produktivkraft) große Sorgen machen muss. Im Unternehmenssteuerrecht herrscht seit einem guten Jahrzehnt gesetzgeberischer Stillstand, weshalb sich Deutschland zum Hochsteuerland par excellence entwickelt hat. Die Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen inländischer Unternehmen suchen sich aus steuerlichen Gründen zunehmend ausländische Standorte. Schleichend koppelt sich Deutschland damit von den Produktivitätschancen der digitalen Zukunft immer weiter ab.
Obwohl gerade Fachkräfte in vielen Branchen händeringend gesucht werden, hat die Politik mit dem verlockenden abschlagsfreien Angebot der Rente mit 63 bereits deutlich über eine Million Bürger vorzeitig dem Erwerbsleben entzogen und damit die Früchte der Rente mit 67 unterlaufen. Notwendig wäre schon jetzt eine weitere sukzessive Erhöhung des Renteneintrittsalters für die Zeit ab 2030. Die Hauptlast des demografischen Wandels hat die Rentenversicherung in der Dekade danach zu tragen, weil dann die starken Babyboomer-Kohorten der späten Fünfziger- und frühen Sechziger-Jahre alle im Ruhestand sind. Gleichzeitig fehlen dann Millionen von Arbeitskräften, weil die schwachen jungen Generationen das Ausscheiden der starken alten Kohorten nicht einmal ansatzweise ausgleichen.
Ich möchte Westerwelles Zitat ergänzen: „Wer das Volk nicht rechtzeitig auf notwendige Einschnitte vorbereitet und erst in der wirtschaftlichen Krise mit Aktionismus reagiert, wird ihm eine viel brutalere Rechnung präsentieren müssen. Vernünftige Reformpolitik wartet nicht auf die Krise, sondern sorgt vor, um sie möglichst schmerzarm zu überstehen. Deshalb muss gerade in guten Zeiten Reformpolitik betrieben werden.“ Man könnte eine solche Reformpolitik auch antizyklisch nennen. Doch darauf zu hoffen heißt angesichts der politischen Realitäten, auf den St. Nimmerleinstag zu warten. Also hilft vielleicht doch nur das Warten auf die nächste große Krise, wie die NZZ unkt.