Tichys Einblick
METZGERS ORDNUNGSRUF 01-2019

Ist Reformpolitik nur in der Krise politisch durchsetzbar?

„Noch läuft es recht gut“, urteilt die NZZ , aber: „Offensichtlich muss der Leidendruck erst stärker werden, damit wichtige Reformen endlich gelingen.“

Die vierspaltige Überschrift, mit der das liberal-bürgerliche Schweizer Leitmedium, die Neue Zürcher Zeitung in einem großen Aufmacher ihre Leser kurz vor dem Jahreswechsel konfrontierte, ist so bitter wie richtig: „Es muss uns zuerst schlechter gehen.“ Traurig ist diese Aussage für uns alle, ob Regierende oder Regierte, ob Unternehmer oder Arbeitnehmer, ob Produzenten oder Konsumenten, ob Journalisten oder Leser: Vorausschauendes und vernünftiges Handeln scheint im permanenten Widerspruch zu den Mechanismen des politischen Betriebs zu stehen – auch und gerade in demokratischen Systemen, in denen das Volk als Souverän die Regierenden auch abwählen kann.

Was geschieht mit dem EURO?
Ausblick 2019: Steigen die Zinsen? Krachen die Banken?
Zehn Jahre Hochkonjunktur in Deutschland wurden viel zu wenig genutzt für die Lösung struktureller Probleme. Statt unsere Wettbewerbsfähigkeit wieder zu verbessern und unsere Sozialversicherungen auf den demografischen Wandel vorzubereiten, nahmen (und nehmen) CDU/CSU und SPD in immer kleiner gewordenen Großen Koalitionen ebenso wie die konservativ-liberale Regierung (2009 bis 2013) Zug um Zug Reformen zurück, die von einer faktischen Allparteienkoalition vor 16 Jahren zu Zeiten Gerhard Schröders als Agenda-2010-Projekt beschlossen worden waren.

Damals, nach einer langen Phase des wirtschafts- und sozialpolitischen Reformstillstands, galt Deutschland zu Recht als „kranker Mann“ Europas. Doch der sozialdemokratische Bundeskanzler nutzte die Krise zu einer arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Kehrtwende, die das Arbeitgeberlager verwunderte, die Gewerkschaften verstörte und die linke Volkspartei SPD in eine existenzielle Krise stürzte. Die Wähler goutierten die Reformpolitik der SPD nicht. Sie verlor erst ihr Kernland Nordrhein-Westfalen und dann die vorgezogenen Bundestagswahlen 2005. Außerdem erntete sie eine neue linke Konkurrenzpartei.

Mehr Sozialismus wagen
"Entlastungen, Investitionen" - die aktuellen Fake-News der Bundesregierung
Die SPD rettete sich zwar in eine erste Große Koalition unter Angela Merkel und schaffte dank ihres Arbeitsministers Franz Müntefering 2006 auch noch die stufenweise Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre. Doch das war es dann. Obwohl Deutschland dank der maßgeblich von einer SPD-geführten Bundesregierung angestoßenen Reformen nicht nur die Folgen der Finanzkrise 2008/2009 besser bewältigte als viele andere europäische Länder und die Beschäftigungsquote heute auf einem absoluten Rekordniveau liegt, bekennen sich die damaligen Reformer nicht zu den Früchten ihrer Arbeit, sondern arbeiten in einer Allparteienkoalition an der faktischen Abwicklung dieser Erfolgsbedingungen.

Der damals liberalisierte Arbeitsmarkt wurde und wird in einem Ausmaß rereguliert, das einem gerade angesichts der bevorstehenden Digitalisierungsoffensive (künstliche Intelligenz ersetzt menschliche Produktivkraft) große Sorgen machen muss. Im Unternehmenssteuerrecht herrscht seit einem guten Jahrzehnt gesetzgeberischer Stillstand, weshalb sich Deutschland zum Hochsteuerland par excellence entwickelt hat. Die Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen inländischer Unternehmen suchen sich aus steuerlichen Gründen zunehmend ausländische Standorte. Schleichend koppelt sich Deutschland damit von den Produktivitätschancen der digitalen Zukunft immer weiter ab.

Ideologiekosten
Energiebilanz 2018 - Strom wird zum Luxusgut
Mit der Politik der offenen Grenzen hat Deutschland in den vergangenen Jahren mehrheitlich langfristige Kostgänger des Sozialstaats ins Land gelassen, statt mit einer gesteuerten Einwanderung qualifizierte Fachkräfte anzulocken, die nicht nur für ihren eigenen Lebensunterhalt aufkommen können, sondern auch die sozialen Sicherungssysteme einer alternden Gesellschaft stabilisieren helfen. Stattdessen verliert die Bundesrepublik jährlich eine sechsstellige Zahl von erstklassig ausgebildeten jungen Menschen, die sich vom Ertrag ihrer persönlichen Leistung im nahen und ferneren Ausland mehr Netto vom Brutto versprechen als im Hochabgaben- und Hochsteuerland Deutschland.

Obwohl gerade Fachkräfte in vielen Branchen händeringend gesucht werden, hat die Politik mit dem verlockenden abschlagsfreien Angebot der Rente mit 63 bereits deutlich über eine Million Bürger vorzeitig dem Erwerbsleben entzogen und damit die Früchte der Rente mit 67 unterlaufen. Notwendig wäre schon jetzt eine weitere sukzessive Erhöhung des Renteneintrittsalters für die Zeit ab 2030. Die Hauptlast des demografischen Wandels hat die Rentenversicherung in der Dekade danach zu tragen, weil dann die starken Babyboomer-Kohorten der späten Fünfziger- und frühen Sechziger-Jahre alle im Ruhestand sind. Gleichzeitig fehlen dann Millionen von Arbeitskräften, weil die schwachen jungen Generationen das Ausscheiden der starken alten Kohorten nicht einmal ansatzweise ausgleichen.

Eine Streitschrift
Ist Demokratie noch zeitgemäß?
Alle diese Problemstellungen sind kein Geheimnis. Doch die gute konjunkturelle Lage verführt Politiker wie Bürger zu einer Selbstzufriedenheit, die in keinem Verhältnis zu den absehbaren Risiken steht. Statt Vorsorge zu treffen, wird geprasst und auf Teufel heraus konsumiert, statt in die Zukunft investiert. Vollkaskomentalität beherrscht den politischen wie gesellschaftlichen Mainstream. Der Staat soll möglichst alles richten, aber wehe, er präsentiert die Rechnung. Guido Westerwelle, der verstorbene frühere FDP-Außenminister, erntete einst wütende Empörung mit diesem Zitat: „Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein. An einem solchen Denken kann Deutschland scheitern.“

Ich möchte Westerwelles Zitat ergänzen: „Wer das Volk nicht rechtzeitig auf notwendige Einschnitte vorbereitet und erst in der wirtschaftlichen Krise mit Aktionismus reagiert, wird ihm eine viel brutalere Rechnung präsentieren müssen. Vernünftige Reformpolitik wartet nicht auf die Krise, sondern sorgt vor, um sie möglichst schmerzarm zu überstehen. Deshalb muss gerade in guten Zeiten Reformpolitik betrieben werden.“ Man könnte eine solche Reformpolitik auch antizyklisch nennen. Doch darauf zu hoffen heißt angesichts der politischen Realitäten, auf den St. Nimmerleinstag zu warten. Also hilft vielleicht doch nur das Warten auf die nächste große Krise, wie die NZZ unkt.

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