Auch wenn die Volksseele nur zu kochen scheint, wenn es um die Impfpflicht und Corona-Freiheitsbeschränkungen geht: Soziale Sprengkraft entwickelt vor allem die galoppierende Preisentwicklung bei den Energiekosten. Im politisch gespaltenen Amerika sind sich republikanische wie demokratische Wähler in einem Punkt einig: Sie klagen über die hohen Spritpreise. Die Zustimmungswerte für Präsident Joe Biden sind so dramatisch gefallen, wie das Tanken teurer wurde. Die Klimawende übrigens, die der Präsident zum Amtsantritt verkündete, ist längst zum Lippenbekenntnis geworden, weil er die Erdöl- und Gasförderung hochgefahren hat und die Exploration neuer Lagerstätten in einem lange nicht gekannten Ausmaß genehmigt hat.
Damit reagiert die Berliner Ampel-Koalition erstmals auf die wachsende Preissensibilität bei besonders bedürftigen Haushalten. Denn bereits im Vorwahlkampf der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen (dort wird im Mai gewählt) zeigt sich, dass die Energiepreisentwicklung zur Achillesferse für Sozialdemokraten, Grüne und Liberale werden könnte. Mit einiger Resonanz attackiert derzeit CDU-Ministerpräsident Hendrik Wüst geschickt diese offene Flanke der Bundesregierung.
Das Klima-Mantra wird von der sozialen Frage abgelöst
Der Wahlkampfschlachtruf der deutschen Grünen – „Klima, Klima über alles“ – droht schneller von der sozialen Frage konterkariert zu werden als von den objektiven Problemen, die eine von den Grünen gewünschte Energieversorgung auf Basis von Wind und Sonne ohnehin aufwirft. Mag Robert Habeck, der grüne Bundeswirtschaftsminister, in den letzten Tagen als Klimaschutzminister die Nachrichtensendungen und Titelseiten beherrscht haben: Die Umsetzung seiner Windkraft-Offensive wird nicht nur von den unzähligen Bürgerwiderständen – oft mit grüner lokaler Politikunterstützung – ausgebremst, sondern auch wegen der Kostenexplosion der speziellen deutschen Energiewende massiven Gegenwind erfahren.
Die Notenbanken haben die Inflation zu lange als „temporär“ angesehen
Bis vor wenigen Monaten negierten die großen Notenbanken der Welt die Kostenexplosion der Energie als „temporär“. Die US-Notenbank Fed und ihr Chef Jerome Powell drehen inzwischen fast im Wochenrhythmus bei, weil sie die sozialen Kosten der Inflation für die Kaufkraft der Bürger zunehmend zur Kenntnis nehmen. Bis zu vier Zinserhöhungsschritte in diesem Jahr traut man der Fed inzwischen zu. Auch die Anleihekäufe werden schneller zurückgefahren als noch im Dezember angekündigt. Selbst eine signifikante Reduktion der Fed-Bilanz ist nicht unwahrscheinlich. Dass die Energiepreis-Explosion in den USA weniger auf politischen Vorgaben wie etwa in Europa beruht, sondern mehr den Marktverwerfungen in Corona-Zeiten geschuldet ist, darf in diesem Zusammenhang nicht unterschlagen werden.
Angesichts dieser politisch gewollten Lenkungsabsicht, mit der fossile Energieträger systematisch verteuert werden, von „temporärer“ Inflation zu sprechen, lässt an der intellektuellen Urteilsfähigkeit der EZB-Mehrheit zweifeln. Doch Christine Lagarde hat sich und der EZB eine neue Spielart der Geldpolitik verordnet: Sie will „grüne“ Investments präferieren, womöglich ein Etikett, mit dem auch langfristig Anleihekäufe grün vermarktet werden. Dass es dabei aber eher darum geht, die Refinanzierungsbedingungen für Euro-Schuldnerstaaten günstig zu halten, als um Klimaschutz, versteht sich angesichts der EZB-Praxis der vergangenen zehn Jahre fast von selbst.
Statt „Klima, Klima über alles“ werden sich nicht nur Grüne schneller als ihnen lieb ist, von diesem Mantra verabschieden müssen. Denn die Themen Bezahlbarkeit und Versorgungssicherheit werden die Menschen bei der Energie mehr umtreiben als der Klimaschutz, der erst in langen Zyklen und nicht im deutschen Alleingang positive Folgen zeitigt. Ebenso die Frage, wie so drängende Themen wie die Alterssicherung, die Gesundheitsversorgung und die Pflege bezahlbar bleiben, wenn die jungen Kohorten immer kleiner und die alten Kohorten immer stärker werden. Die soziale Frage wird in Zeiten des demographischen Wandels mit aller Macht auf der Tagesordnung ganz nach oben rücken.