Alljährlich treffen sich in Jackson Hole, im noblen Kurort am Fuß der Rocky Mountains, die wichtigsten Notenbanker der Welt zu einem Treffen. In diesem Jahr findet das Symposium zwar in deutlich kleinerem persönlichen Rahmen als gewohnt und teilweise im Cyber-Space statt. Nichtsdestotrotz schauen die globalen Finanzmärkte besonders gespannt auf die Rede des US-Notenbank-Chefs Jerome Powell, die er am Freitagmorgen (08.00 Uhr Ortszeit) halten wird. Viele Auguren erwarten die Ankündigung des sogenannten „Tapering“, die Reduzierung der Wertpapierkäufe durch die US-Notenbank Fed. Die Bank von England übrigens hat ein solches Vorgehen bereits öffentlich angekündigt. Derzeit kauft die Fed monatlich für 80 Milliarden US-Dollar Staatsanleihen und für 40 Milliarden US-Hypothekenanleihen.
Doch der hohe Inflationsdruck in den USA von deutlich über 5 Prozent und eine außer in Kriegszeiten nie dagewesene Staatsverschuldung erzwingen förmlich ein Herunterfahren der exzessiven Geldpolitik, zumal die Biden-Regierung gleichzeitig auch noch Billionen-Dollar-schwere investive und konsumtive Konjunkturpakete geschnürt hat, obwohl die Wirtschaft in den Staaten schon auf Hochtouren läuft.
In der deutschen Politik, in der das Statistische Bundesamt gerade das höchste Haushaltsdefizit in einem 1. Halbjahr seit 1995 verkündet hat, setzen Politiker aus Opposition und Regierungsfraktionen weiter auf Niedrigzinsen. Das Motto: Wenn Schulden schon nichts kosten, weil die Zinsen praktisch abgeschafft sind, dann gehen wir in die Vollen. Grünen-Chef Robert Habeck, der bei einer Regierungsbeteiligung der Grünen als Finanzminister gehandelt wird, spricht sich offen für eine Lockerung der Schuldenbremse im Grundgesetz aus, „weil das angesichts der niedrigen Zinsen der sinnvollste Weg ist“. Auch der CSU-Vorsitzende Markus Söder ließ erst vor wenigen Tagen erkennen, dass man für Investitionen in Klimaschutz und Digitalisierung mehr Spielraum brauche. Der im Moment als zugkräftigster Kanzler-Aspirant gehandelte Olaf Scholz steht ebenfalls für eine Modifizierung der Schuldenbremse, seine SPD ohnehin wie die Grünen und die Linken. Zwar braucht es im Parlament eine Zweidrittelmehrheit für eine Änderung oder gar Abschaffung der grundgesetzlichen Schuldenregel, aber ob FDP, AfD und größere Teile der Unionsfraktion eine Drittel-Sperrminorität in der nächsten Legislaturperiode garantieren werden, ist angesichts des opportunistischen Politikbetriebs keineswegs ausgemacht.
Das Zinsänderungsrisiko lässt sich berechnen
Über viele Jahre haben sich die Finanzminister des Bundes und der Länder an permanent sinkende Zinsausgaben gewöhnt. Obwohl sich die Verschuldung des Bundes in den vergangenen 25 Jahren mehr als verdoppelt hat – von 630 Milliarden Euro (1995) auf heute 1,3 Billionen Euro (Stand vom 31.07.2021), sind die jährlichen Zinsausgaben seit 2009 ständig gesunken: von damals 38,1 Milliarden Euro auf 6,4 Milliarden Euro im Jahr 2020. Wer die Kreditaufnahmeberichte der Bundesfinanzagentur (Kreditaufnahmebericht des Bundes 2020 (deutsche-finanzagentur.de)) liest, erkennt den Zusammenhang von Zinsentwicklung und Zinshöhe. Zu beachten ist auch die Laufzeitenstruktur der unterschiedlichen Kreditaufnahmeinstrumente des Bundes. Aktuell beträgt die durchschnittliche Laufzeit von Bundespapieren knapp 6,8 Jahre. Für die Zinsausgabenentwicklung des Bundes ist deshalb entscheidend, wieviel Anschlussfinanzierung der Staat jährlich braucht. Und da untertreibt die ausgewiesene Summe der sogenannten Nettokreditaufnahme, obwohl sie in den beiden Corona-Jahren auf rekordträchtige dreistellige Milliardensummen angestiegen ist.
Das Zinsänderungsrisiko schlägt also immer jährlich in Höhe der jeweils geltenden Zins-Konditionen auf die Bruttoneuverschuldung durch. Erhöht sich die Refinanzierung um 1 Prozent, dann erhöhen sich die jährlichen Zinsausgaben des Bundes aktuell um 3,5 Milliarden Euro. Wer sich die Entwicklung der Zinsen für die Bruttokreditaufnahme des deutschen Bundeshaushalts und seiner Sondervermögen in den vergangenen 25 Jahren vor Augen führt, vor allem in den letzten fünf Jahren, kann leicht abschätzen, was eine umgekehrte Entwicklung für den Staatshaushalt bedeuten würde: Im Jahr 1996 lagen die Zinsen für die Anschlussfinanzierung bei 5,35 Prozent, 2000 bei 5,43 Prozent, 2005 bei 3,38 Prozent, 2010 bei 2,44 Prozent, 2015 bei 0,61 Prozent und 2020 bei minus 0,38 Prozent.
Politiker, die auf das Bundesfinanzministerium schielen wie der Grüne Habeck, sollten das Zinsänderungsrisiko im Auge haben und nicht die Illusion der vermeintlich risikolosen Nullzins-Verschuldung nähren. Vermögenspreisblasen können schnell platzen – ob an den Aktien- oder Immobilienmärkten, die von der Nullzinspolitik leben. Deshalb werden die Finanzmärkte auch alle Hebel in Bewegung setzen, um die drohende geldpolitische Kehrtwende durch Kursturbulenzen zu torpedieren. Die Angst vor dem nächsten Crash oder gar einer Rezession soll die Notenbanken daran hindern, ihre Kriseninterventionen zu beenden. Doch die Inflation ist bereits auf dem Vormarsch und schleicht sich als heimliche Enteignung in die Börsen und die Altersvorsorge von Millionen Menschen.
Gerade in der Klimapolitik so vehement auf Nachhaltigkeit pochende Parteien sollten diesen Grundsatz auch in der Haushalts- und Finanzpolitik beherzigen. Und sie sollten sich unter ihr Kopfkissen den Leitsatz von Ludwig Erhard legen: „Verteilt werden kann nur, was vorher erwirtschaftet wurde.“ Ohne solide und langfristig tragfähige Finanzpolitik gibt es keinen dauerhaften Wohlstand, keinen leistungsfähigen Sozialstaat, kein ökologisch verträgliches Wirtschaften.