Italiens stellvertretende Ministerpräsidenten Luigi di Maio und Matteo Salvini sind empört. Sie wittern eine Verschwörung gegen Italiens Regierung durch die Finanzmärkte. Denn als öffentlich ruchbar wurde, dass die Koalitionsparteien Lega und Cinque Stelle das Haushaltsdefizit für 2019 auf 2,4 Prozent des BIP steigern wollen, stiegen die Zinsaufschläge für italienische Staatspapiere auf die höchsten Werte seit 2011. Italienische Bankaktien stürzten ab. Der Eurokurs sank und die europäischen Börsen reagierten mit Abschlägen, während der Dow Jones auf ein Allzeithoch kletterte.
In den nordeuropäischen Euro-Ländern dagegen hoffen viele, dass die negativen Marktreaktionen eine disziplinierende Wirkung auf Italiens Regierung entfalten. Bis zum 15. Oktober muss der Haushaltsplan mit allen Details in Brüssel vorgelegt werden, wo er dann bewertet wird. Zumindest der erste Aufschrei war selbst für Brüsseler Verhältnisse groß. Doch ob die EU tatsächlich nachhaltig italienische Disziplin einfordert, bleibt aufgrund gemachter Erfahrungen mit anderen Schuldensündern mehr als fraglich. Auch die großen amerikanischen Rating-Agenturen werden die Pläne zeitnah bewerten und mit großer Wahrscheinlichkeit ihren Daumen Ende des Monats für italienische Staatspapiere noch einmal senken: nahezu auf Ramschstatus. Schneller als viele immer noch glauben, wird ein Szenario wieder tagesaktuell: Kann, darf oder muss ein Land, das sich überhaupt nicht an die vereinbarten Stabilitätsregeln im Euro-Raum hält, den Euro verlassen? Zwar gibt es für die Aufnahme in den Euro klare Regelvorgaben. Doch ein Ausstieg ist nicht vorgesehen. Was nicht sein kann, darf offensichtlich nicht sein. Denn, so Angela Merkel, vor Jahren im Deutschen Bundestag: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa!“ Das sieht man (nicht nur) in Schweden und Dänemark, die den Euro nicht haben wollen, aber gern voll integrierte EU-Mitgliedstaaten sind, sicher ganz anders.
Doch in diesem Ordnungsruf geht es um den Glauben an die Unbestechlichkeit der Märkte, auf deren disziplinierende Kräfte viele in Sachen Italien setzen. Erinnern wir uns nicht gerade in diesen Wochen an die Finanzkrise des Jahres 2008? Die Märkte haben damals die Schrottpapiere bereitwillig gehandelt. Niemand wollte genau wissen, was für toxische Klumpenrisiken gebündelt wurden. Die Testate der „unbestechlichen“ Rating-Agenturen mussten genügen. Lemmingen gleich saugten sich selbst angeblich professionelle Anleger angesichts der prognostizierten Renditen voll mit diesen intransparenten Finanzprodukten. Die Blase platzte, Lehmann ging pleite und die Schockwellen durchrasten die globale Finanzwelt. Eine riesige Kapitalvernichtung fand statt. In vielen Ländern mussten die Steuerzahler für die Verluste geradestehen, nicht die Verursacher. Hunderte von Milliarden Euro kostete die Finanzkrise allein den deutschen Staat.
Ich kann mich noch gut an das legendäre Zitat des früheren US-Notbenbankchefs Paul Volcker erinnern, das er damals prägte: „Too big to fail!“ Wenn Finanzinstitute so groß sind, dass sie wegen ihrer Systemrelevanz nicht mehr pleite gehen dürfen, dann verliert die Marktwirtschaft ihre schärfste Ordnungsregel. Denn mit dem Totalverlust müssen alle rechnen, die hochspekulativ agieren. Hohe Gewinnchancen beinhalten immer auch hohe Verlustrisiken. Wer sich verzockt, verliert. Das ist die volkstümliche Konkretisierung des von Ordnungsökonomen so gern postulierten Prinzips von Haftung und Verantwortung. Notfalls müssen marktbeherrschende Unternehmen zerschlagen werden. In der Digitalökonomie werden die Debatten über eine Zerschlagung der Fast-Monopolisten Facebook, Google und Amazon lauter. Im Finanzmarkt sind entsprechende Diskussionen aber eher wieder verstummt. Doch die nächste Krise wird schlagartig diese fatale Unterlassungssünde offenlegen.
Können Börsen, deren Hausse auf kreditfinanzierter Nachfrage beruht, tatsächlich ein Land wie Italien zur Haushaltsdisziplin zwingen? Eine Dekade dauert jetzt schon die Börsen-Rallye in den USA. Treiber dieser Hausse, deren Renditen fast 3 Prozent über dem Zuwachs im Rest der Weltbörsen liegen, war nicht zuletzt ein gigantisches Aktien-Rückkaufprogramm der US-Unternehmen. Sage und schreibe 4.500 Milliarden Dollar investierten die Unternehmen, um eigene Aktien zurückzukaufen. Sie taten das aber nicht etwa mit erwirtschafteten Gewinnen, sondern überwiegend mit Krediten. In der gleichen Zeit stiegen nämlich die Verbindlichkeiten der US-Unternehmen um nicht weniger als 3.800 Milliarden US-Dollar. Die Nullzinspolitik, die auch die US-Notenbank nach der Finanzkrise praktizierte, lud förmlich zur Verschuldung ein, um „günstig“ an wertvolles Eigenkapital zu kommen. Solidität sieht für mich anders aus. Auch deshalb sollten wir den Glauben an die regulierende Kraft der Finanzmärkte nicht überstrapazieren.
Funktionierende Märkte brauchen eine Ordnungsrahmen, der auf Haftung und Verantwortung und auf fairen Wettbewerb setzt. Ohne diesen marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmen werden auch weiter die Gewinne privatisiert und die Verluste sozialisiert.