Tichys Einblick
METZGERS ORDNUNGSRUF 10-2021

Freiberufler und Unternehmer raus aus den Parlamenten?

Wenn die Parlamente als Folge der diskutierten Beschränkungen des freien Mandats künftig noch weniger attraktiv für Leute aus der Wirtschaft sind, dann wird es auf dem Marsch in eine staatlich gelenkte Marktwirtschaft erst recht kein Halten mehr geben.

imago Images/Political Moments

Den Parlamentsbetrieb kenne ich aus der Binnensicht. Ich war acht Jahre Mitglied im Deutschen Bundestag (1994-2002), einem Vollzeitparlament, und zwei Jahre Landtagsabgeordneter in Stuttgart (2006-2008), einem Landtag, der damals noch als Teilzeitparlament galt. Während meiner acht Jahre im Bundestag, die mich als haushaltspolitischer Sprecher der Grünen und zeitweise parallel noch als Obmann im Finanzausschuss mehr als voll auslasteten, verfügte ich über keine sonstigen Einkünfte – außer einer kleinen Aufwandsentschädigung für eine Verwaltungsratstätigkeit bei der Kreissparkasse Biberach, die ich einem kommunalen Mandat im Kreistag schon vor der Wahl in den Bundestag zu verdanken hatte. Während der kurzen Mandatszeit im Stuttgarter Landtag (weil ich die Grüne Partei verließ, legte ich mein Mandat nieder!) übte ich meine freiberufliche publizistische Tätigkeit als Autor und Vortragsredner weiter aus, die ich nach meinem Ausscheiden aus dem Bundestag hauptberuflich begonnen hatte. Deshalb erzielte ich als Teilzeitparlamentarier in den meisten Monaten meiner Stuttgarter Landtagszeit den größeren Teil meines Einkommens aus freiberuflicher Tätigkeit sowie einem Aufsichtsratsmandat in einem Solarunternehmen und nicht aus den damals relativ niedrigen Diäten eines Teilzeitparlaments.

Die aktuelle Masken-Provisionsaffäre um den Ex-Abgeordneten Nikolas Löbel (ehemals CDU) und seinen Kollegen Dr. Georg Nüßlein (jetzt fraktionslos, vorher CSU) prägen in diesen Tagen die Debatte um die finanziellen Versuchungen, denen raffgierige Abgeordnete erliegen können, wenn sie ihr ordentlich dotiertes Mandat in persönlicher Bereicherungsabsicht versilbern wollen. Weil die CDU eine krachende Niederlage bei den Landtagswahlen am Sonntag in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz fürchten muss und sich die politische Konkurrenz, bei der bisher kein Fehlverhalten öffentlich wurde, mit freundlicher medialer Unterstützung darüber empören kann, tauchen jetzt zahllose Vorschläge auf, wie man die schonungslose Offenlegung aller Tätigkeiten neben dem Mandat oder gar das Verbot jeglicher beruflicher Tätigkeit neben dem Mandat durchsetzen kann. Auch die Verschärfung der strafrechtlichen Folgen von mandatsbedingter Bereicherung stehen auf der Agenda. So verständlich diese Forderungen sind und so sehr jetzt vor allem die CDU unter Handlungsdruck steht, so überlegt sollte man aber auch deren Risiken und Nebenwirkungen bedenken – und vor allem keine panischen Schnellschüsse produzieren.

Die Dominanz des öffentlichen Dienst-Denkens in der Politik ist gefährlich

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Gerade in der Corona-Politik, die von der Exekutive verordnet und von den Parlamenten meist mit großen Mehrheiten abgesegnet wurde, hat sich eine gefährliche Diskrepanz zwischen dem Denken und Handeln in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Sektor offenbart. Von der Politik stillgelegte Betriebe und ihre Inhaber werden abgestraft, tausende wirtschaftliche Existenzen sehenden Auges vernichtet. Staatliche Unterstützung fließt in der Wahrnehmung vor allem in Großunternehmen, während der selbständige Mittelstand teilweise am ausgestreckten Arm verhungert. Die Online-Techgiganten aus den USA können sich auch bei der deutschen Politik bedanken, die ihnen massive Marktanteils- und Gewinnzuwächse zu Lasten des stationären Handels zugeschanzt hat.

Die Regierungsmitglieder und ihre Ministerialbürokratie, die Abgeordneten und ihre Mitarbeiter sowie nahezu der gesamte öffentliche Dienst haben die Corona-Pandemie nicht in ihren Geldbörsen gespürt, sondern ihre Bezüge, Diäten und Gehälter ungeschmälert weiter erhalten. In vielen Bereichen ist der öffentliche Sektor, dessen Produktivität in typisch deutscher Saturiertheit gern überschätzt wird, seit vielen Monaten praktisch stillgelegt. Behörden machen Homeoffice, was häufig gleichzusetzen ist mit partieller Einstellung der Arbeit. Wer sich die bürokratischen Pannen um das Impf- und Testdesaster oder den Stand der Digitalisierung in der Gesundheitsverwaltung oder im öffentlichen Bildungswesen vergegenwärtigt, kann nur zu dem Schluss gelangen: Hier versagt der Staat und seine Akteure in einem geradezu beschämenden Ausmaß.

Staats-, nicht Marktversagen!

Doch das Narrativ, das nicht nur die deutsche Politik dominiert, lautet anders: Die Marktwirtschaft ist der üble Feind. Unternehmerische Freiheit gehört stärker beschränkt, um Exzesse zu verhindern. Regulatorische Eingriffe der Politik häufen sich in einem atemberaubenden Ausmaß, bremsen Innovation und Produktivität. Politiker wollen eine staatlich gelenkte Wirtschaft durchsetzen, als ob der Staat jemals der bessere Unternehmer gewesen wäre. Verdrängt wird, dass die immens schnelle Corona-Impfstoffentwicklung auf privatwirtschaftlichen Forschung beruht, nicht auf staatlicher Kreativität. Dafür stellt besonders der deutsche Staat seine Unfähigkeit nicht nur beim Impfen und Schnelltesten bisher deutlich unter Beweis.

Meine Befürchtung angesichts dieses Befundes: Wenn die Parlamente als Folge der diskutierten Beschränkungen des grundgesetzlich geschützten freien Mandats künftig noch weniger attraktiv für Leute aus der Wirtschaft sind, die als Freiberufler oder Unternehmer ihre Frau oder ihren Mann stehen, dann wird es auf dem Marsch in eine staatlich gelenkte Marktwirtschaft erst recht kein Halten mehr geben. Wir bräuchten aber dringend mehr Abgeordnete, die aus eigener Anschauung wissen, was Unternehmertum bedeutet.

Nachtrag: Persönliche Verfehlungen lassen sich durch noch so wasserdichte Regelungen nie vollständig ausschließen. Deshalb ist es in einer Demokratie essentiell, dass Medien ihre investigative Kontrollfunktion ausüben. Nichts ist heilsamer, als die Angst vor Aufdeckung. Der gnadenlose berufliche Absturz der enttarnten Raffkes vom Schlage eines Nikolas Löbel oder Georg Nüßlein ist womöglich die wirkungsvollste Bremse, um für mehr Anstand im Parlament zu sorgen.

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