Sie erinnern sich: Im Mai des vergangenen Jahres entschied das Karlsruher Bundesverfassungsgericht in einer spektakulären Entscheidung, dass die Europäische Zentralbank (EZB) mit dem Anleihekaufprogramm PSPP ihr Mandat überspannt hatte. Damit setzten sich die Richter explizit in Widerspruch zu einer Entscheidung des Gerichtshofs der EU (EuGH), der zuvor einen kritischen Vorlagenbeschluss des höchsten deutschen Gerichts schroff mit einem unbegrenzten Freibrief für die EZB-Anleihenkäufe konterte. Mit ihrer Entscheidung setzten die Karlsruher Richter der Bundesregierung und dem Bundestag eine Drei-Monats-Frist, binnen derer die EZB die Verhältnismäßigkeit ihres Anleihekaufprogramms belegen sollte. Falls das nicht geschehe, dürfe die Deutsche Bundesbank sich nicht mehr innerhalb des Systems der europäischen Zentralbanken an den Anleihekäufen beteiligen.
Der Aufruhr war kurzzeitig zwar groß in der europäischen und deutschen Politik. Doch die Klatsche aus Karlsruhe wurde in bewährter Manier „geregelt“. Es wurden Dokumente zwischen der EZB, der Bundesregierung und dem Bundestag ausgetauscht, mit denen angeblich eine substanzielle Verhältnismäßigkeitsprüfung der Anleihekäufe belegt wurde. Es wirkte wie eine Pro-Forma-Erfüllung der Frist-Vorgabe des BVerfG. Am 2. Juli 2020 hat der Bundestag dann in seiner vorletzten Sitzung vor der Sommerpause in einem interfraktionellen Beschluss von Union, SPD, FDP und Grünen apodiktisch erklärt: „Der Deutsche Bundestag hält die Darlegung der EZB zur Durchführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung für nachvollziehbar und die Vorgaben des Urteils des BVerfG vom 5. Mai 2020 – 2BvR 859/15 u.a. – somit für erfüllt.“
Neue Richterin relativiert BVerfG-Entscheidung schon vor Amtsantritt
Die Kläger, allen voran Peter Gauweiler, erhielten nicht einmal Einblick in alle Dokumente. Deshalb beantragte Gauweiler eine sogenannte Vollstreckungsanordnung, um vom BVerfG prüfen zu lassen, ob dessen Anforderungen tatsächlich erfüllt worden sind. Dieses Verfahren ist seither beim 2. Senat des BVerfG anhängig. Gauweiler stellte auch einen Befangenheitsantrag gegen die erst seit dem 22. Juni 2020 amtierende Verfassungsrichterin Prof. Astrid Wallrabenstein. Sie wurde von den Grünen vorgeschlagen und am 15. Mai 2020 einstimmig vom Bundesrat gewählt. Am Tag vor ihrer Ernennung erschien in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) unter der Überschrift „New Kids in Karlsruhe“ ein Text, in dem der Autor aufgrund der personellen Nachbesetzung im 2. Senat auf eine künftig europafreundlichere Grundausrichtung des deutschen Verfassungsgerichts spekulierte. Auch die designierte Verfassungsrichterin Wallrabenstein, die anderntags auf den ausscheidenden Verfassungsrichter Andreas Voßkuhle folgen sollte, eine erklärte „Europäerin“, war in dem Beitrag mehrfach zitiert. Ihre dort widergegebenen Zitate waren Grundlage für den Befangenheitsantrag von Peter Gauweiler, dem die Mehrheit des 2. Senats am 12. Januar dieses Jahres stattgab. Bekannt wurde die Entscheidung allerdings erst in dieser Woche, als die FAZ darüber erstmals berichtete.
Die jetzt von der weiteren Verfahrensbeteiligung ausgeschlossene Richterin hatte mit ihren Äußerungen in der FAS den Eindruck erweckt, dass das BVerfG womöglich gar nicht auf einem neuen Beschluss des EZB-Rates zu den Anleihekäufen beharren werde: „Ich weiß nicht, ob es letztlich so wichtig ist, dass die verlangte Erklärung der EZB in einem neuen Beschluss des Rates ergeht.“ Wallrabenstein ließ auch deutlich erkennen, dass sie die Kritik ihrer künftigen Kollegen am EuGH für zu schroff hält: „Dem Ton nach“ sagten die Worte des BVerfG an die Adresse der EuGH-Richter: Was ihr da gemacht habt, „ist der allerletzte Unsinn“. Deshalb verstehe sie den Unmut, dass sich der EuGH da „auf den Schlips getreten fühlt“. Und sie fragt, ob es denn „besonders glücklich“ sei, „jemandem auf den Schlips zu treten“.
Ob sich aus dem erfolgreichen Befangenheitsantrag von Gauweiler auch eine Tendenz für die inhaltliche Prüfung seiner beantragten Vollstreckungsanordnung ableiten lässt, steht allerdings auf einem ganz anderen Blatt. In einem Interview mit dem Prozessbevollmächtigten von Peter Gauweiler stellte Tichys Einblick bereits am 30. Juli 2020 fest: „Es ist schon merkwürdig, dass für ein Anleihekaufprogramm, das bereits am 9. März 2015 startete, jetzt als Nachweis einer ernsthaften Verhältnismäßigkeitsprüfung eine EZB-Ratssitzung vom Juni 2020 herhalten muss, in der es schwerpunktmäßig um das aktuelle PEPP-Programm in der Corona-Krise ging. Es wirkt wie ein abgekartetes Spiel zwischen EZB, Bundesregierung und Bundestag, um formal im Nachhinein das ‚kleinkarierte‘ BVerfG zufriedenzustellen.“
Bemerkenswert ist immerhin, dass sich die Mehrheit der Richterinnen und Richter im 2. Senat des BVerfG von einer neuen Richterkollegin nicht auf den Schlips treten lässt, die Stil und Ernsthaftigkeit einer Entscheidung schon vor ihrem Amtsantritt in Frage stellte. Das lässt hoffen, dass sich das BVerfG auch künftig als unabhängige Hüterin des deutschen Verfassungsrechts versteht und nicht als Erfüllungsgehilfin des europäischen Zentralismus.