Tichys Einblick
METZGERS ORDNUNGSRUF 26-2019

Eine Deutsche als EU-Kommissionspräsidentin: Ein Danaergeschenk!

Mit dem Auszug der Briten verliert Deutschland seine Sperrminorität in der EU. Frankreich weiß die neue Macht auszuspielen und sichert sich die EZB.

© Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Eines muss man der Kanzlerin lassen: Selbst mit dem Rücken in der Wand gelingen der Poker-Frau manchmal Volten, die Freund und Feind staunen lassen. Der EU-Deal, der mit Ursula von der Leyen womöglich die erste Deutsche seit Walter Hallstein nach mehr als fünf Jahrzehnten an die Spitze der EU-Kommission führt, sofern das EU-Parlament sie tatsächlich wählt, hat der Kanzlerin innenpolitisch womöglich eine längere Verweildauer im Amt beschert. Denn die meisten Kommentatoren, die sie noch am Wochenanfang nach dem gescheiterten Sonntagsgipfel als „lame duck“ gescholten hatten, die in 14 Regierungsjahren noch nie eine europäische Spitzenposition für Deutschland erkämpft habe, mussten jetzt Abbitte leisten. Gabor Steingart, einer der schärfsten Kritiker zu Wochenbeginn, schloss am Mittwoch sein „Morning Briefing“ mit einem alles andere als ironischen „Glückwunsch Kanzlerin!“ Früh am Morgen fehlt eben noch der Überblick.

Dass der Posten einer deutschen Kommissionspräsidentin aber teuer erkauft ist, spielt erstaunlicherweise in der deutschen Rezeption nur eine geringe Rolle. Er könnte sich als Danaerpräsent entpuppen, weil sich im Land noch nicht herumgesprochen hat, dass der Auszug der Briten aus der EU eine fatale Konsequenz für die stärkste europäische Volkswirtschaft hat. Deutschland kann künftig von den Weichwährungsländern unter Führung Frankreichs, dem „Club Med“, überstimmt werden. Die alte Machtbalance zwischen Nord- und Südeuropäern ist perdú. Diese deutsche Erfahrung war bisher auf den Rat der Europäischen Zentralbank beschränkt, wo sich die geldpolitischen Tauben längst gegen die soliden Falken durchgesetzt haben, weil jedes Land nur eine Stimme hat und Jens Weidmann, der Bundesbankchef, immer stärker isoliert war, wenn er Einwände gegen die Niedrigzinspolitik oder die Anleihenkäufe formulierte.

Dass die Geldpolitik in der Eurozone auch künftig vom „Club Med“ dominiert wird, dafür hat nicht nur Frankreich Sorge getragen. Denn auf den ultralockeren Geldpolitiker Mario Draghi folgt mit Christine Lagarde die frühere französische Finanzministerin, die in den vergangenen Jahren als Chefin des Internationalen Währungsfonds den Kurs der EZB unter Draghi stets positiv begleitet hat. Mit ihr an der EZB-Spitze ist mit einer weiteren Politisierung der Geldpolitik zu rechnen – weitere Minuszinsen, die Wiederaufnahme der Anleihenkäufe und die direkte Monetarisierung von Staatsschulden eingeschlossen. Der Pfad zu einer „Japanisierung“ Europas ist ohnehin vorgezeichnet. Dafür sorgt auch eine bereits jüngst getroffenen Personalentscheidung in der EZB. Mit dem Iren Philip Lane hat ein ausgewiesener Anhänger einer lockeren Geldpolitik gerade erst den Posten des Chefvolkswirts übernommen. Er dürfte für die neue EZB-Chefin, die Juristin und keine Ökonomin ist, der wichtigste Ratgeber sein. In den kommenden Monaten endet auch die Amtszeit des Franzosen Benoît Coeure im Direktorium der EZB. Als gesichert kann gelten, dass Italien das Amt besetzen will. Weil Italien im jetzigen Personaltableau der EU-Regierungschefs keinen Posten abbekam, kann als gesichert gelten, dass es in dieser Hinsicht bereits Vorabsprachen gibt. Mehr als nur Spekulation ist auch, dass Italien als Gegenleistung für die Zustimmung zum Personalpaket ein Verzicht der EU-Kommission auf die Einleitung eines förmlichen Disziplinarverfahrens wegen seiner unsoliden Haushaltspolitik in Aussicht gestellt wurde.

Jens Weidmann und damit die solide geldpolitische Denkschule der Deutschen Bundesbank ist Geschichte. Die Weichen für die Weichwährung Euro sind endgültig gestellt. Das Aufregerpotential in Deutschland tendiert aber fast gegen Null, weil sich die Öffentlichkeit viel stärker über die Multiverwendungsfähigkeit von deutschen Ministerinnen echauffiert oder sich an Nachfolgespekulationen im Bundesverteidigungsministerium delektiert.

Die eigentliche tektonische Machtverschiebung in der EU wird ausgeblendet. Und da schließt sich der Kreis zur deutschen Bundeskanzlerin. Hätte sie im Spätsommer und Herbst des Jahres 2015 die deutschen Grenzen für die Massenmigration nicht geöffnet, dann wäre die Brexit-Entscheidung in Großbritannien wohl anders ausgefallen. Denn viele Briten hatten Angst vor einer ungeregelten Zuwanderung (Stichwort: Personenfreizügigkeit), die auch von den Fernsehbildern aus einem damals administrativ hoffnungslos überforderten Deutschland genährt wurden. Das behaupten Kenner der britischen Innenpolitik noch heute. Doch die Kanzlerin und das politische Establishment in Deutschland lassen die Briten ziehen, obwohl unser Land die bittere Zeche bezahlen wird. EU-Europa wird endgültig zur Transfer-Union, für die ein Land Zahlmeister ist, das künftig nicht einmal mehr eine Sperrminorität gegen überbordende Ansprüche organisieren kann.

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