So gehäuft wie in der Corona-Krise der letzten zwei Monate und erst recht nach dem spektakulären EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist mir diese Sehnsucht nach staatlicher Unterordnung selten begegnet: Viele Fernsehabende und unzählige Zeitungsseiten lang beklagten sich Journalisten, Politiker und Experten über den „Flickenteppich“ an Maßnahmen, mit denen die 16 deutschen Länder differenziert auf die Pandemie reagierten. Statt sich der Stärken des Föderalismus zu besinnen, die regionale Ausdifferenzierungen und bürgernähere Problemlösungen möglich machen, wurde zuhauf die Vorstellung bedient, dass nur ein starker Zentralstaat angemessen auf die Corona-Herausforderung reagieren könne.
„Föderalistische Staaten sind in dieser Krise besser aufgestellt“
In einem langen Interview mit dem Oxford-Professor Oliver Zimmer reflektiert die Neue Zürcher Zeitung (NZZ, 13. Mai 2020) die Beobachtung, dass Staaten mit republikanischem Ethos und föderalem Aufbau die Corona-Krise deutlich besser als Zentralstaaten bewältigen. Hier eine für mich entscheidende Passage aus diesem Gespräch:
„NZZ: Wenn Sie von der Insel auf den europäischen Halbkontinent blicken, was beobachten Sie dann?
Oliver Zimmer: Föderalistische Staaten wie die Schweiz oder auch Deutschland sind in dieser Krise besser aufgestellt. Zentralistische wie Italien oder Frankreich oder das Vereinigte Königreich befinden sich im Nachteil.
NZZ: Worauf führen Sie das zurück?
Zimmer: Nun ja, in föderalistischen Staaten ist auch das Gesundheitswesen föderalistisch organisiert und besser an die lokalen und regionalen Gegebenheiten angepasst. Ist ein Staat in Kantone oder Bundesländer mit eigenen Rechten und Kompetenzen gegliedert, können eben kleinere politische Körperschaften als der Nationalstaat voneinander lernen. Solche Lerneffekte sind gerade in Krisen von unschätzbarem Wert. Zentralistische Staaten wie Frankreich oder England versuchen hingegen alles von der Kommandozentrale aus zu steuern. Und was in Normalzeiten mehr schlecht als recht funktioniert, akzentuiert sich in Krisenzeiten. Dazu kommt in zentralistischen Staaten eine stärkere Tendenz zur Politisierung der Krise, vor allem in Mehrheitssystemen mit Regierung und Opposition.“
Das höchste deutsche Gericht kämpft für die nationale Verfassung, solange es keinen Europäischen Staat gibt
Auch die politische und mediale Rezeption der spektakulären Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, mit dem die Karlsruher Richter das Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank(EZB) als nicht verhältnismäßig beurteilten und eine vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) dafür im Dezember 2018 erteilte Blankovollmacht als „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“ und „willkürliche“ Entscheidung qualifizierten, atmet den Geist willfähriger Unterordnung unter die immer größere Selbstermächtigung der Europäischen Union. Den Beifall des polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki für die Karlsruher Entscheidung nahmen auch sogenannte Qualitätsmedien zum Anlass, das BVerfG in die rechtspopulistische Ecke zu stellen, es recht pauschal als antieuropäisch zu stigmatisieren.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Europapolitiker und die Brüsseler Eurokraten unter „ever closer union“ den permanenten Kampf für einen europäischen Zentralstaat verstehen – unterstützt von medialen Claqueuren. Fast begierig eignet sich Brüssel immer mehr Zuständigkeiten an, immer willfährig vom EuGH flankiert. Doch so gut wie nie wird in den Mitgliedstaaten offen über die Selbstaufgabe der Nationalstaaten gestritten, die doch die logische Konsequenz eines europäischen Zentralstaats wäre. Weder in Frankreich, noch in Italien, noch in irgendeinem Mitgliedstaat der EU wäre eine solche nationale Selbstaufgabe mehrheitsfähig. Das wissen die Zentralisten und deshalb agieren sie mit der Salami-Taktik und verschleiern ihr eigentliches Ziel.
Doch die Wahrheit sieht anders aus: Die eigentlichen Hüterinnen der Verträge sind die Mitgliedstaaten, die in den europäischen Verträgen nur begrenzte Kompetenzen nach Brüssel abgegeben haben. In Europa gilt laut Lissaboner Vertrag das Subsidiaritätsprinzip, nicht der Zentralitätsvorrang. Werden diese delegierten Kompetenzen überschritten, dann müssen die Nationalstaaten und ihre obersten Gerichte dieser Kompetenzanmaßung Einhalt gebieten. Nichts anderes hat nach langem Vorlauf auch das höchste deutsche Gericht getan. Übrigens haben bereits andere oberste Gerichte von Mitgliedstaaten offensichtlich kompetenzwidrige Entscheidungen des EuGH verurteilt – etwa das oberste Gericht Dänemarks oder das Tschechische Verfassungsgericht.
„Das Urteil war zwingend“
Aufschlussreich ist ein Interview, das die FAZ (Ausgabe vom 13.05.2020) mit dem zuständigen Berichterstatter dieser Entscheidung, Verfassungsrichter Peter M. Huber, geführt hat, der das Karlsruher Urteil als „zwingend“ einstuft. Ich zitiere entscheidende Passagen aus diesem Gespräch:
„FAZ: Die Haltung des Bundesverfassungsgerichts zum Europarecht ist Kritikern schon länger ein Dorn im Auge. Nach dem Urteil zur Europäischen Zentralbank (EZB) ist von „schlimm“ bis „gefährlich“ die Rede. Hat Sie das überrascht?
Peter M. Huber: Ich habe natürlich mit Kritik gerechnet. Was mich erstaunt, ist die Einseitigkeit und der eifernde Ton, der hier von manchen angeschlagen wird. Klar ist doch, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) zwar seit 50 Jahren einen schrankenlosen Vorrang des Europarechts reklamiert, fast alle nationalen Verfassungs- und Höchstgerichte dem jedoch genauso lange widersprochen haben. Solange wir nicht in einem europäischen Staat leben, richtet sich die Mitgliedschaft eines Landes nach seinem Verfassungsrecht. Dieses muss zwar offen sein für den Anwendungsvorrang des Europarechts, kann aber auch Grenzen vorsehen, wie das bei uns in Art. 23 des Grundgesetzes der Fall ist. (….)
FAZ: Inwiefern war dieses Urteil zwingend?
Huber: Das Programm zum Ankauf von Staatsanleihen PSPP hat erhebliche wirtschaftspolitische Nebeneffekte – für die Haushalte der Mitgliedstaaten, den Immobilien- und Aktienmarkt, Lebensversicherungen und anderes mehr – und betrifft insoweit auch Bereiche, für deren Ordnung die Mitgliedstaaten zuständige sind. Mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit soll sichergestellt werden, dass diese Übergriffe nicht außer Verhältnis zum angestrebten Erfolg stehen. Das erfordert eine Abwägung. Nur so kann etwa ein flagranter Missbrauch verhindert werden. Eine solche Abwägung gab es aber nicht einmal im Ansatz, und der EuGH hielt sie in seiner Vorabentscheidung auch nicht für erforderlich. Insofern war das Urteil meines Erachtens zwingend.
(…..)
FAZ: Die EU-Kommission prüft ein Vertragsverletzungsverfahren. Ist das nicht unausweichlich?
Huber: Unausweichlich ist das keineswegs. Vielmehr hat die Kommission insoweit einen politischen Ermessensspielraum. Dabei sollte sie zur Kenntnis nehmen, dass Deutschland und die meisten anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union gar nicht hätten beitreten dürfen, wenn es den vom EuGH angenommenen schrankenlosen Anwendungsvorrang des Europarechts vor dem Grundgesetz gäbe. (….)
Ein Vertragsverletzungsverfahren brächte aber eine erhebliche Eskalation, die Deutschland und andere Mitgliedstaaten in einen schwer auflösbaren Verfassungskonflikt stürzen könnte. Denn der schrankenlose Vorrang des Unionsrechts ist mit der Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes und vielen anderen Verfassungen nicht vereinbar. Auf lange Sicht würde das die Europäische Union schwächen oder gefährden. (….)“
Die Karlsruher Verfassungsrichter kämpfen um den Wesensgehalt der deutschen Verfassung. Solange es einen Nationalstaat Deutschland gibt, ist das ihre Pflicht und Schuldigkeit. Dafür haben sie Anerkennung verdient, keine Richterschelte. Wer Deutschland als Staatssubjekt in einem europäischen Zentralstaat aufgehen lassen will, mag sich über das Urteil ärgern. Aber dann sollte er sich auch offen zur Preisgabe der Nationalstaatlichkeit bekennen.