Die Post, die der Bundeswirtschaftsminister in dieser Woche von anerkannten Forschern um Deutschlands führenden Rentenexperten Axel Börsch-Supan erhält, hat es in sich. Denn mit ihren Berechnungen warnen die Fachleute eindringlich vor der „Unbezahlbarkeit“ der doppelten Haltelinie in der Rentenpolitik, von der SPD und Union in ihrem Koalitionsvertrag fabulieren. Der Beitragssatz für Arbeitgeber und Arbeitnehmer darf laut Koalitionsvertrag 20 Prozentpunkte nicht übersteigen und das Nettorentenniveau für die Ruheständler nicht unter 48 Prozent sinken.
Diese wohlfeilen Versprechungen kommen bei vielen älteren Wählerinnen und Wählern sehr gut an, wie alle Umfragen seit vielen Jahren belegen. Weil die älteren Semester nach wie vor die wahlentscheidenden Kohorten für Union und SPD darstellen, wird Rentenpolitik nicht nach Faktenlage, sondern nach der Erwartungshaltung dieser wichtigen Wählergruppe gemacht. Die Alten scheinen – zumindest vordergründig – vor allem an ihrer eigenen Lebensstandardsicherung interessiert zu sein. Die Kosten der immer längeren Senioritätsphase, die in einem umlagefinanzierten System von der aktiven Generation Monat für Monat mit hohen Sozialabgaben und Steuern zu bezahlen sind, interessieren dabei wenig. Hinzu kommt das verbreitete ökonomische Analphabetentum, das in der oft gehörten Aussage von Rentnern gipfelt: „Ich habe doch lebenslang in die Rente einbezahlt!“
Als ob wir in der Rentenversicherung ein kapitalgedecktes System hätten, das sich aus Zins- und Zinseszinseffekten speist und auf hohen Rücklagen fußt. Dabei fließt das Geld fast Monat für Monat direkt aus den bezahlten Beitragseinnahmen der arbeitenden Kinder- und Enkelgeneration an die rentenbeziehende Eltern- und Großelterngeneration – auch an die kinderlosen Alten! Zwei Drittel der monatlichen Rentenausgaben stammen aus Beitragsgeldern der arbeitenden Bevölkerung, ein Drittel wird per Bundeszuschuss aus Steuereinnahmen beigesteuert – derzeit jährlich gut 90 Milliarden Euro.
Obwohl es längst Allgemeingut sein müsste: Die Münchner Forscher müssen die Politik offensichtlich an die zunehmende Alterung unserer Gesellschaft erinnern. Nach wie vor steigt die Lebenserwartung von Frauen wie Männern, was für die Rentenversicherung in Summe ständig steigende Ausgaben bedeutet. In den kommenden Jahren gehen gleichzeitig die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge in Ruhestand. Das führt zu einer deutlichen Verschlechterung des Altenquotienten, der das zahlenmäßige Verhältnis von Personen im Rentenalter (über 65 Jahre) zu den Personen im erwerbsfähigen Alter (von 20 bis unter 65 Jahre) abbildet.
Um die Dramatik der von der Bundesregierung versprochenen doppelten Haltelinie anschaulich zu machen, beziffern die Rentenfachleute vom Max-Planck-Institut die Ausgabenlücke der Rentenversicherung und berechnen eine dafür nötige Mehrwertsteuererhöhung. Im Rentenkapitel des Koalitionsvertrags steht nur lapidar zu lesen, dass die notwendige Finanzierung der versprochenen Rentenniveau- und Beitragssatzstabilität „bei Bedarf durch Steuermittelt sichergestellt“ werde. Um welche Steuerarten und um welche Volumina es sich dabei handelt, darüber schweigen sich die großzügigen GroKo-Partner selbstverständlich aus.
Nach den Berechnungen von Börsch-Supan und seinen Kollegen fehlt bereits ab 2025 die stolze Summe von elf Milliarden Euro im Jahr. Fünf Jahre später wären es bereits 45 Milliarden Euro, 2035 80 Milliarden Euro und 2048 bereits 125 Milliarden Euro jährlich. Um diese Deckungslücken ohne Beitragssatzanstieg oder Rentenniveauabsenkung zu finanzieren, müsste schon 2030 die Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte erhöht werden. 2036 läge die erforderliche Gegenfinanzierung aus dieser Steuerart bereits bei 6 Prozentpunkten.
Doch angesichts der aktuell hohen Beitrags- und Steuereinnahmen scheint die Politik bar jeder Vernunft zu handeln. Demografischer Wandel war gestern, heute ist Verprassen angesagt. Schon die Rente mit 63 und die Mütterrente in der vergangenen Legislaturperiode waren ein Sargnagel für ein nachhaltig finanziertes Alterssicherungssystem. Jetzt stehen Mütterrente II und weitere Leistungsausweitungen auf der Tagesordnung. Statt alle Kräfte auf die säkulare Veränderung des Altersaufbaus unserer Gesellschaft zu richten und die Lasten zwischen Jungen und Alten fair zu verteilen, erhöht die Bundesregierung die künftigen Konsolidierungsaufgaben rücksichtslos.
Doch wir alle sollten uns klar werden: Es gibt vor allem drei Stellschrauben in der Rentenpolitik: die Höhe der Beitragssätze der sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer und ihrer Betriebe, das Niveau der Rente und das Renteneintrittsalter.
Alle drei Faktoren sind politisch mindestens so heikel und damit schwer durchzusetzen wie drastische Steuererhöhungen zur Erhöhung des Bundeszuschusses an die Rentenkasse. Auch hier drücken sich die Münchner Rentenforscher nicht um eine brisante Zahl. Wollte die Berliner Koalition Beitragssatzstabilität und Rentenniveauabsicherung allein durch eine Erhöhung des Renteneintrittsalters bewirken, dann müsste ab 2030 das gesetzliche Renteneintrittsalter bei 69 Jahren liegen, 2045 dann bei 71 Jahren.
Verantwortliche Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Das sollten sich Angela Merkel und Olaf Scholz samt ihrer sozialpolitischen Entourage ins Stammbuch schreiben, ehe sie ihre verlogene Rentenpolitik von den Koalitionsfraktionen als Gesetz beschließen lassen.