Als Abgeordneter der Grünen stimmte ich am 22. Dezember 2001 im Deutschen Bundestag (14210.pdf (bundestag.de)) der „Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan auf der Grundlage der Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zu“. Ein Vierteljahr zuvor hatte der blutige Terroranschlag vom 11. September auf die USA stattgefunden, der dann die Grundlage für den UN-mandatierten Militäreinsatz am Hindukusch im Rahmen des Kampfs gegen den internationalen Terrorismus bildete. 538 Abgeordnete stimmten vor fast 20 Jahren diesem Einsatz zu. Es gab nur 35 Gegenstimmen und 8 Enthaltungen. Kaum jemand konnte oder wollte sich damals vorstellen, wie lange diese Mission dauern, geschweige denn, wie eine Exit-Strategie einmal aussehen würde. In manchen Debatten um das Für und Wider wurde an das Gedicht von Theodor Fontane „Das Trauerspiel von Afghanistan“ (Theodor Fontane – Das Trauerspiel von Afghanistan (zgedichte.de)) erinnert , in dem er 1852 beschrieb, wie die Briten nach einer dreijährigen Besatzung mit Tausenden Soldaten und rund 10.000 Hilfskräften samt Frauen und Kindern flohen und nahezu alle in der Khurd-Schlucht bei Kabul in eine Falle liefen und niedergemetzelt wurden. Als einziger Europäer überlebte der Armee-Arzt William Brydon, dessen Ankunft in Dschalalabad Fontane im Schlusssatz seines Gedichts würdigt: „Mit dreizehntausend der Zug begann, Einer kam heim aus Afghanistan.“
Wer die ursprünglichen Antragsvoraussetzungen für ein Ausreisevisum heute nachliest, die Deutschland für die verängstigten afghanischen Hilfskräfte monatelang bereithielt, will sich für unser Land fremdschämen: Ein Visum für Deutschland sollten nur Afghanen erhalten, die eine „individuelle Gefährdung“ nachweisen können. Ketzerisch gefragt: Muss da jemand eine Kopie einer Todesliste der Taliban vorlegen, auf der sein Name steht? Ursprünglich sollten nur Ortskräfte berücksichtigt werden, die in den letzten zwei Jahren für die Bundeswehr gearbeitet hatten. Dabei waren deutsche Soldaten fast zwanzig Jahre im Land. Wer für ein Subunternehmen gearbeitet hatte, wurde nicht berücksichtigt, Tätigkeiten für die deutsche Entwicklungshilfe zählten nicht. Selbstverständlich waren die Flugtickets auch selbst zu bezahlen, was angesichts der Armut im Land für viele ein unüberbrückbares Ausreisehindernis darstellt, selbst wenn sie alle anderen bürokratischen Hürden der Deutschen überwunden haben. Perfider und abschreckender hätten auch die strammsten AfD-Politiker die Kriterien kaum formulieren können. Aber schließlich sind Bundestagswahlen und da passt keine neue Fluchtwelle ins Konzept der etablierten Wahlkämpfer.
Staatsversagen in der Corona-Pandemie und bei der Ahr-Flutkatastrophe
In der Corona-Krise entzauberte sich die angeblich effiziente Verwaltung in Deutschland. Fehlende digitale Kommunikation und Vernetzung der Gesundheitsbehörden, keine Bevorratung von medizinisch notwendigem Gerät (selbst Masken für die Kliniken fehlten anfangs), bei der Corona-Warn-App rangierte der Datenschutz höher als der Schutz vor dem Virus. Auch im zweiten Jahr der Pandemie ein Agieren der Politik, als ob man den massenhaften Re-Import von Virusvarianten durch Urlauber nicht voraussehen konnte. Zehntausende von Toten in der gefährdetsten Altersgruppe der Hochbetagten, weil man Alten- und Pflegeheime nicht schützte, obwohl Politiker ständig davon redeten. Monatelanges Impf-Chaos, weil die Impfstoffbestellung zu spät und dann auch noch über die träge EU-Bürokratie erfolgte. Flächendeckende Luftfilter in den Schulen, um nach den Ferien den Präsenzunterricht auch dann zu gewährleisten, wenn die Witterung wieder herbstlicher wird und die Inzidenzen bei den Schülern steigen – Fehlanzeige! Eine Quasi-Exekutivregierung aus Ministerpräsidenten und Kanzlerin, die im Grundgesetz nicht vorgesehen ist, die Parlamente zur Staffage macht und bürgerliche Freiheitsrechte nach Gusto und höchst widersprüchlich einschränkt.
Dass die Staatsanwaltschaft nach einem Naturereignis wie der Ahr-Flut ermitteln muss, warum die Menschen nicht rechtzeitig gewarnt wurden, obwohl schon Tage zuvor die Katastrophe immer präziser von seriösen offiziellen Stellen vorhergesagt wurde, wirft ein Schlaglicht auf eine saturierte und selbstzufriedene Verwaltung und Politik, deren Selbstbild an der tristen Wirklichkeit zerschellt. Viele der Getöteten im Ahrtal sind in Wahrheit nicht Opfer der Flut, sondern der unterbliebenen Warnung mancher Behörden. Man will es nicht glauben, aber man schämt sich für ein Land, das immer häufiger administrativ überfordert wirkt – von der Bundesspitze bis hinab zu so manchen lokalen Behörden. In Berlin ist man die nicht funktionierende Lokalverwaltung seit vielen Jahren gewöhnt. Wer rechtzeitig wichtige Urkunden will – ob bei der Geburt, bei Heirat oder Tod –, wartet dort oft Monate. Wer heute in der Bundeshauptstadt Termine bei Bürgerämtern bucht, wird auf Oktober vertröstet. Längst hat dieses Berlin-Virus die ganze Republik befallen.