Die Grünen haben derzeit nicht nur demoskopisch einen Lauf. In drei aktuellen Meinungsumfragen (Stand 28.04.) liegen sie entweder deutlich (Forsa: 28 zu 22%) oder knapp vor der Union (Kantar: 28 zu 27%) oder zumindest gleichauf (INSA: 23 zu 23%). Die ohne öffentlichkeitswirksame Schlammschlacht inthronisierte grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock führt derzeit sogar das Ranking an, wenn die Wähler nach einem Urteil über sie und ihre Mitbewerber Armin Laschet (CDU) und Olaf Scholz (SPD) bei einer Direktwahl befragt werden. Noch nie hatten die Grünen bundesweit so hohe Umfragewerte, nicht einmal vor zehn Jahren nach der Tsunami-Havarie im japanischen Fukushima. Die zeitigte damals wenige Wochen später bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg Folgen, als mit Winfried Kretschmann der erste Grüne in das Amt eines Ministerpräsidenten gelangte, das er inzwischen bereits zwei Mal bei Wahlen verteidigen konnte. In einer normalen Woche erhalten die Grünen, die im vergangenen Jahr als eine der ganz wenigen Parteien überhaupt Mitgliederzuwächse aufweisen konnten, zwischen 150 und 300 Aufnahmeanträge. In der Woche nach Baerbocks Nominierung als Kanzlerkandidatin verzeichnete die Partei mehr als 2.500 Beitrittsgesuche. Die Verantwortlichen der Grünen Bundestagsfraktion, im Augenblick mit 8,9 % die kleinste Oppositionspartei im Parlament, treibt derzeit vor allem die Frage um, wie sie mit einem Aufwuchs von heute 67 auf bis zu 200 Abgeordnete umgehen sollen – in der Personal- und Raumplanung und bei der Anpassung der Arbeitsstrukturen auf die sehr wahrscheinliche Rolle einer Regierungsfraktion.
Söder fiel in seiner Eitelkeit nicht auf, dass ihn vor allem das linksliberale und grüne Juste Milieu in den Medien im innerparteilichen Kandidatenduell unterstützte und damit zu seiner demoskopischen Überhöhung beitrug, weil er als Kanzlerkandidat der Union einen reinrassigen Lagerwahlkampf möglich gemacht hätte, der Grünen, SPD und der Linkspartei voll zupass gekommen wäre. Wenn man so will, war Söder der Lieblingsgegner des grünlinken Spektrums. Ob das seinen angeblich so vielen Unterstützern an der CDU-Basis nicht langsam dämmert? Dass Söder mit seinen „Schmutzeleien“ (O-Ton Horst Seehofer), die er sich gegen den auserkorenen Armin Laschet bereits geleistet hat, auch in der CDU ganz schnell Sympathien verspielt, ist allerdings sicher. Streit in den eigenen Reihen, zumal in Wahljahren, goutieren weder die Parteimitglieder noch die Wähler. Auch hier sticht das Grüne Kontrastprogramm wieder ins Auge. Während Söder den schlechten Verlierer gibt, zeigt sich Robert Habeck bei den Grünen zwar enttäuscht, aber loyal. Und wie tough Annalena Baerbock letzten Sonntagabend bei Anne Will die durchsichtigen Versuche der Moderatorin auskonterte, einen Keil zwischen sie und Habeck zu treiben, konnten Millionen Zuschauer miterleben.
Aus heutiger Sicht hat die Union nur Außenseiterchancen, das Kanzleramt zu verteidigen. Denn der links-grüne Zeitgeist hat sich vorerst durchgesetzt. Selbst die USA sind nach 100 Tagen Joe Biden zum Vorbild der Grünen und linken Parteien in Deutschland geworden: Steuererhöhungen auf breiter Front, massive Mindestlohnerhöhungen und gigantische staatliche Investitionsprogramme, selbstverständlich mit Schulden finanziert, werden als willkommene US-Argumentationsstützen für entsprechende grün-rot-rote Wunschoptionen nach der Bundestagswahl instrumentalisiert. Wenn es überhaupt noch einem Unions-Kanzlerkandidaten gelingen sollte, eine solche Koalition arithmetisch unmöglich zu machen, dann ist es Laschet, weil er das Unionswählerpotential in der Breite eher halten kann als der Polarisierer Söder. In fünf Monaten bereits treten die nackten Zahlen an die Stelle aller Spekulationen.