Tichys Einblick
METZGERS ORDNUNGSRUF 7 – 2018

Das riskante Leben im „Pumpkapitalismus“

Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“ wird aktuell wieder gern zitiert. Ist dieses Wohlstandsversprechen in Zeiten des „Pumpkapitalismus“ überhaupt zu halten?

© DANIEL ROLAND/AFP/Getty Images

Seit Jahrzehnten erleben wir, dass unsere Vorstellungen von Wohlstand nur um den Preis einer immer gewaltiger werdenden Verschuldung bezahlt werden können – in privaten Haushalten, in Unternehmen, bei Staaten wie bei Banken. Die globale Schuldenquote steigt und steigt. Lag sie 2008, im Jahr der Lehman-Pleite, noch bei 280 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP), summiert sie sich für die vier genannten Sektoren heute bereits auf 318 Prozent.

Der ehrbare Kaufmann blieb auf der Strecke

Der große liberale Soziologe Ralf Dahrendorf prägte in seinem letzten Essay unter dem Eindruck der Finanzkrise kurz vor seinem Tod im Juni 2009 den Begriff „Pumpkapitalismus“. Er schrieb damals sehr zutreffend: „Mir scheint ein wichtiges Glied in der Ursachenkette der Krise dies zu sein, dass nicht nur mit Geld Geld ‚verdient‘ wurde, sondern dass dies mit geborgtem Geld geschah. Allerorten trat an die Stelle des klassischen ‚Sparkapitalismus‘ ein ‚Pumpkapitalismus‘, der von nicht mehr ‚bedienbaren‘ privaten Hypotheken bis zum Handel mit sogenannten strukturierten Finalprodukten (‚Derivaten) reichte. Viele Sitten des ehrbaren Kaufmanns und des guten Haushaltens gingen dabei über Bord.“

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Marktwirtschaft ist mehr als Freihandel
Zur sozialen Marktwirtschaft gehören nicht nur Wettbewerb und Sozialversicherung. Der legendäre Ludwig Erhard rief in unzähligen Reden deshalb immer wieder zum „Maßhalten“ auf. Wenn nicht auch der Beitrag des Einzelnen zum Allgemeinwohl in einer Gesellschaft hoch bewertet wird, dann wird es nichts mit dem Wohlstand für alle. Dass sich die politischen und wirtschaftlichen Eliten mit ihren Maßstäben so exzessiv von der breiten Masse entkoppelt haben, gefährdet den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft. Die Kurzfrist-Orientierung der Finanzmarktakteure, die Quartalsberichts-Fixierung der Vorstandsmitglieder, die in DAX-Unternehmen im Schnitt nicht einmal vier Jahre im Amt sind, das aktionistische Kurzfristdenken der Politik, das maximal bis zur nächsten Wahl reicht – alle diese Faktoren führen zu einer Atemlosigkeit, in der keine Verantwortung gedeihen kann. „Verantwortung verlangt Nachhaltigkeit, also das Denken in zumindest mittleren Fristen“, resümierte Dahrendorf in seinem Essay.
Das süße Gift der Staatsverschuldung

Wie stark der „Pumpkapitalismus“ in den Alltag unserer Mitbürger vorgedrungen ist, verdeutlicht die „easy credit“-Werbung. Nicht nur langlebige Güter werden auf Ratenbasis erworben, sondern auch Unterhaltungselektronik oder gar der Urlaub auf Kredit. Das monatliche Arbeitseinkommen reicht in vielen Haushalten kaum aus, die vielen Ratenkredite zu bedienen. Das Wissen, dass man sich nicht alles leisten kann, scheint in manchen Kreisen auszusterben. Doch das ist auch kein Wunder, weil selbst die Zentralbanken der Welt seit vielen Jahren das Sparen mit Nullzinsen bestrafen und damit explizit zur Konjunkturstimulierung den Konsum befeuern wollen. „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not“, war einmal als kollektive Hyperinflationserfahrung im deutschen Wesen verankert. Das ist längst perdú. Dabei führt permanenter kreditfinanzierter Konsum nicht zu mehr Prosperität, sondern zu immer höherer Verschuldung. Das süße Gift der Staatsverschuldung wird in immer höheren Dosen verabreicht. Wie Junkies an der Nadel hängen unzählige Volkswirtschaften an der immerwährenden Kreditzufuhr.

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Längst werden selbst soziale Leistungen nicht mehr aus der erwirtschafteten Substanz finanziert, sondern anteilig auch mit Krediten. Im Jahr 1973 überstiegen in Deutschland (West) die gesamten Staatsschulden in Relation zur volkswirtschaftlichen Jahresleistung erstmals die für soziale Leistungen jährlich aufzuwendende Gesamtsumme: 30 Prozent des BIP. Die Sozialleistungsquote schwankte über die vergangenen Jahrzehnte in der Regel zwischen 30 und knapp 33 Prozent des BIP. Der Schuldenstand Deutschlands explodierte nach der Finanzkrise auf fast 90 Prozent. Noch heute liegt die Staatsverschuldung bei rund 65 Prozent. Dabei gehört zur Wahrheit, dass alle Finanzminister Profiteure der gefährlichen Nullzinspolitik der EZB sind. Denn ohne die dadurch beim Staat als Schuldner ausgelösten gewaltigen Zinsersparnisse wären die Haushalte in den vergangenen Jahren nicht ohne neue Kredite ausgekommen.
Explizite und implizite Verschuldung

Außerdem ist die explizite Staatsverschuldung nur die eine Seite des „Pumpkapitalismus“. In der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung macht der Staat Leistungszusagen, die von künftigen Beitragszahlern erst noch geschultert werden müssen. Aufgrund der demografischen Entwicklung sind alle diese Sozialversicherungszweige unterfinanziert. Das Gleiche gilt für das Pensionssystem der Beamten, das so gut wie keinen Kapitalstock kennt. Die implizite Verschuldung, die in diesen vier Sektoren versteckt liegt, beträgt rund 200 Prozent des BIP. Auch die Masseneinwanderung der vergangenen Jahre hinterlässt eine Nachhaltigkeitslücke. Weil viele Zuwanderer, anerkannte wie abgelehnte Asylbewerber und ihre Familien, erst nach Jahren – wenn überhaupt – finanziell auf eigenen Füßen stehen und Steuern und Sozialabgaben bezahlen, kann sich die implizite Verschuldung um geschätzte weitere 30 bis zu 50 Prozent des BIP erhöhen.

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Im Klartext heißt das: Entweder steigern alle Staaten der Welt massiv ihre Produktivität, die seit Jahrzehnten lahmt, um das heutige Wohlstandsniveau langsam aber stetig wieder aus eigener Substanz zu erwirtschaften. Oder sie versprechen ihrer Bevölkerung weiteren kreditfinanzierten Wohlstand. Der Preis wird von der breiten Masse dann nicht nur durch massive Kaufkraftverluste (sprich: Inflation) zu bezahlen sein. Am Ende können dann soziale und politische Konflikte stehen, die man aus der Historie als Folge der großen Depression der Dreißiger Jahres des vorigen Jahrhunderts kennt.
Der Pumpkapitalismus endet in Chaos und Anarchie

Für die Alternative einer Politik des Maßhaltens, sprich einer echten Sparpolitik, mag derzeit überhaupt niemand mehr fechten. Wie schwer allein die Debatte um die fatalen Anreizwirkungen zu hoher Sozialtransfers ist, belegen die jüngsten Auseinandersetzungen um die Höhe der Kindergeldzahlungen an Kinder von EU-Ausländern, die nicht in Deutschland, sondern etwa im EU-Armenhaus Rumänien leben. Oder der Essener Tafel-Aufreger, der bei Neukunden kurzzeitig Inländern den Vorzug vor Ausländern gab. Oder die wohlfeile Forderung nach einer deutlichen Erhöhung der Hartz IV-Regelleistungen, die ohne Rücksicht darauf geführt wird, dass Menschen mit geringer Qualifikation durch Erwerbsarbeit ein solches Einkommen kaum je erzielen können. Das Lohnabstandsgebot scheinen Politiker nicht mehr zu kennen. Doch ohne dessen Kenntnis ist der Spruch, dass sich Arbeit lohnen muss, nicht mehr als eine leere Phrase.

Sozialstaatsdebatten haben nicht nur in Deutschland jedes Maß verloren. Weil Kürzungen für Bürger wie Politiker offenbar tabu sind, wachsen die Ansprüche an den Staat ins Uferlose. Das nährt auch künftig diesen „Pumpkapitalismus“, dessen Risiken und Nebenwirkungen in Chaos und Anarchie führen können. Ob diese mehr als berechtigte Sorge Bürger, Politiker und Wirtschaftsakteure doch noch zur Einsicht bringt?

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