Dieses Jahr sah die Bundeskanzlerin der Übergabe des Jahresgutachtens durch den „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ (vulgo: Die fünf Weisen) gespannt entgegen. Vor wenigen Jahren hatte sich das deutlich despektierlicher angehört, als sie selbst, aber vor allem führende SPD-Politiker die Expertise des wissenschaftlichen Quintetts als verzichtbar eingestuft hatten, weil ihnen der Rat nicht genehm war. Doch am Mittwochvormittag nahmen fünf Regierungsmitglieder – neben der Kanzlerin auch Finanzminister Olaf Scholz und Arbeitsminister Hubertus Heil für die SPD sowie Wirtschaftsminister Peter Altmaier und Gesundheitsminister Jens Spahn für die Union – im Bundeskanzleramt aus der Händen der fünf Weisen ein Gutachten entgegen, das es in sich hat.
Die Wachstumsraten sinken international aufgrund der Unsicherheit über die Zukunft der multilateralen globalen Wirtschaftsordnung. Die Stichworte sind mehr als bekannt: Protektionistische Handelspolitik und massive Widerstände gegen den Freihandel. National identifiziert der Sachverständigenrat vor allem die demografische Entwicklung als gewaltige Herausforderung, die Deutschland besonders trifft. Obwohl das Jahresgutachten nicht dramatisiert, läuten die fünf Weisen doch den Abschied von einer der längsten Konjunkturaufschwünge Deutschlands ein. Nach bald zehn Jahren stottert der Konjunkturmotor, weshalb die fünf Weisen ihre Prognosen für die Wachstumsraten deutlich reduziert haben.
Das Jahresgutachten enthält, wie üblich, deutliche Ratschläge für die Regierung, wie sie die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes signifikant erhöhen kann. Von der Forderung nach einer kompletten Abschaffung des Solidaritätszuschlags bis zu einer Abschaffung der regulatorischen Privilegierung von Staatsanleihen in den Bankbilanzen reicht der Kanon der Ratschläge. Dass viele Forderungen jährlich im Gutachten wiederkehren müssen, belegt weniger die Ideenlosigkeit der Weisen als die Ignoranz der Politik, die Ratschläge oft nicht nur nicht aufgreift, sondern geradezu konterkariert.
Das aktuellste Beispiel liefert die Politik heute, genau einen Tag nach der Überreichung des Gutachtens. Denn „demografieblind“ nennt das Gutachten die aktuelle Rentenpolitik der Bundesregierung. Mit der Mütterrente II und der doppelten Haltelinie bei Beitragssätzen und Rentenniveau betreiben Union wie SPD eine gigantische Lastenverschiebung auf die jüngeren Generationen. Demografiefest würde das umlagefinanzierte Rentensystem nach Ansicht der Sachverständigen nur durch eine langfristige Koppelung des Renteneinrittsalters an die fernere Lebenserwartung, wie es skandinavische Länder bereits seit Jahren praktizieren sowie einen Verzicht auf neue Leistungen wie eben die Mütterrente II.
Doch was scheren Politiker schon die Mahnungen aus der Wissenschaft. Nicht einmal die von der Regierung selbst zur unabhängigen Beratung eingesetzten Sachverständigen können auf Gehör hoffen. Doch so prompt wie dieses Mal werden sie selten ignoriert. Denn heute Vormittag beschloß der Bundestag mit den Stimmen der Union und der SPD ein Rentenpaket, das die Ausgaben der Rentenversicherung in den kommenden 7 Jahren um knapp 40 Milliarden Euro erhöht. Euphemistisch heißt das Gesetz übrigens: „RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz“. Eine Konsequenz dieser Entscheidung lässt die Lastenverschiebung von Alt auf Jung besonders deutlich werden. Nach geltendem Rentenrecht wären die Beitragszahler ab Januar 2019 um 0,4 Prozentpunkte oder insgesamt 6 Milliarden Euro entlastet worden. Doch diese Entlastung entfällt ersatzlos, weil die Mütterrente II bezahlt werden muss.
Bar jeder Vernunft leugnen die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen die Fakten. Denn die Babyboomer gehen in großer Zahl in der ersten Hälfte des nächsten Jahrzehnts in Ruhestand. Weil aber die zusätzlichen Ausgaben der Rentenversicherung mit Beiträgen und Steuern bezahlt werden müssen, wird der aktiven Generation dann noch weniger Netto vom Brutto bleiben. Schon heute entziehen sich Zigtausende gut ausgebildete junge Deutsche dieser hohen Finanzierungslast, indem sie auswandern oder ihre Arbeitsleistung reduzieren, weil es sich nicht lohnt.
Doch ohne leistungswillige und -fähige junge Kohorten werden sich die Seniorenjahrgänge nicht über die Aktion Abendsonne der Bundesregierung freuen können. Wo weniger erwirtschaftet wird, wird irgendwann auch weniger verteilt werden. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.