Als Bundesfinanzminister Olaf Scholz gestern auf den Urteils-Paukenschlag des Bundesverfassungsgerichts reagierte, mit dem die Karlsruher Richter das Anleihekaufprogramm (PSPP) der EZB als teilweise verfassungswidrig einstuften und gleichzeitig den Europäischen Gerichtshof (EuGH) für seinen juristischen Freifahrschein rügten, den dieser der EZB im Dezember 2018 dafür erteilt hatte, mochten sich viele über seine Interpretation des Urteils wundern: „Das Anleiheprogramm der Europäischen Zentralbank ist keine monetäre Staatsfinanzierung.“ Es sei grundgesetzkonform und ermögliche der Bundesbank deshalb auch in einer „langen Übergangsfrist“ von drei Monaten, sich weiter an den aktuellen Kaufprogrammen zu beteiligen. Außerdem beziehe sich das Urteil ja nicht auf das aktuelle Corona-Notfallkaufprogramm der EZB. Die nötigen Begründungen für die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Überprüfung der Verhältnismäßigkeit des alten PSPP-Programms ließen sich in dieser Frist sicher nachliefern. Angesichts der Corona-Krise sei eine engere und vertiefte Zusammenarbeit in Europa mit gemeinsamer Geld- und Fiskalpolitik nötig.
„Ultra vires“- Kompetenzüberschreitungen der EZB und des EuGH
Dabei ist die Karlsruher Entscheidung in der Sache sehr klar. Das höchste deutsche Gericht qualifiziert die vom Rat der Europäischen Zentralbank bei ihren wiederholten Beschlüssen zum Anleihekaufprogramm PSPP getroffenen Entscheidungen als sogenannte „Ultra-vires-Maßnahmen“. Die EZB hat damit gegen die ihr von den europäischen Verträgen eingeräumten Kompetenzen zum Nachteil der nationalen Interessen Deutschlands verstoßen. Gleichzeitig bescheinigt das BVerfG – ein juristischer Konter ohnegleichen – dem höchsten Europäischen Gericht, seine Kompetenzen mit seinem Freibrief-Urteil zum EZB-Kaufprogramm ebenfalls überschritten zu haben. Karlsruhe macht deutlich, dass nach wie vor die Nationalstaaten in der Europäischen Union Herren der Verträge sind, weil die EU kein Zentralstaat, sondern „ein Staaten-, Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtssprechungsverbund ist“.
Italiens Kreditwürdigkeit hängt am seidenen Faden
Warum der Bundesfinanzminister so ungeniert auf das Corona-Ankaufprogramm verweist, das vom Urteil des BVerfG tatsächlich formell nicht betroffen zu sein scheint, klingt wie das Pfeifen im Wald. Denn in Europa geht die Panik um, dass sich das Hochschuldnerland Italien, das gleichzeitig auch ein Hot-Spot der Corona-Pandemie ist, womöglich bald mit seiner Kreditwürdigkeit im Junk-Segment bewegt.
An diesem Freitag wird die Rating-Agentur Moody’s ihr neues Urteil über Italiens Bonität abgeben. Die Märkte sind hochnervös, weil die Agentur Fitch vor wenigen Tagen von BBB auf BBB- abgewertet hat. Trotz eines als „stabil“ eingestuften Ausblicks sind die Zinsen für italienische Staatspapiere seit Ende April wieder gestiegen – auf jetzt 1,9 Prozent. Standard & Poor’s hatten ihr Rating Ende April zwar bei BBB belassen, aber den Ausblick auf „negativ“ eingestuft. Italiens Verschuldung wird durch den wirtschaftlichen Shutdown, der einen Rückgang der Wirtschaftsleistung von rund 8 Prozent in diesem Jahr bedeutet, sowie die nationalen Corona-Notfallpakete bis Ende 2020 von derzeit 135 auf mehr als 150 Prozent steigen. Ohne die EZB-Kaufprogramme würden die Zinsen Italiens sofort explodieren. Doch diese Gefahr existiert natürlich erst recht, wenn das italienische Rating auf Ramsch-Niveau sinkt. BBB- ist die niedrigste Einstufung im sogenannten Investment-Grade-Status. Alle Einstufungen darunter sind Hochzinsanleihen oder Junk-Bonds. Institutionelle Anleger und Fonds müssen sich dann von diesen Papieren verabschieden, was den Risikozins für die Emittenten noch weiter steigert. Und was ein Junk-Bond-Status für das aktuelle Corona-Kaufprogramm der EZB bedeuten würde, wenn man das Urteil des BVerfG analysiert, liegt auf der Hand.
Wir sollten uns für die Jahre nach der Corona-Krise darauf einstellen, in Europa endlich offen den Grundsatzstreit auszutragen, ob die Euro-Zone eine Stabilitäts- oder eine Transferunion sein soll. Voraussetzung dafür ist aber die klare Ansage, dass die EZB nicht alle Probleme mit Billionenprogrammen, sprich der Druckerpresse, zudeckt. Hier kann das Karlsruher Verfassungsgerichtsurteil langfristig hilfreich sein. Nur wenn politisch hart und mit offenem Visier gekämpft wird, haben die Wähler die Chance, den zukünftigen Weg aktiv zu beeinflussen. Ein europäischer Zentralstaat durch die Hintertür muss jedenfalls verhindert werden.