Tichys Einblick
METZGERS ORDNUNGSRUF 44-2021

Corona als gesellschaftlicher Spaltpilz: Verstand einschalten! Verbal abrüsten!

Mit Schaum vor dem Mund diskutieren Geimpfte und Ungeimpfte. Hass und Wut ersetzen eine rationale Debatte. Dieser Virus-Kollateralschaden ist gefährlich.

© Getty Images

Ob im Freundes- und Bekanntenkreis diskutiert wird, am Arbeitsplatz, in den Arztpraxen oder in den Schlangen vor den Geschäften, wo Sicherheitspersonal die Impf- und Testzertifikate prüft: Die Stimmung ist nicht selten aggressiv. Wütend sind nicht nur die Impfskeptiker, sondern längst auch die Geimpften, denen Politiker und die komplette veröffentlichte Meinung ein Jahr lang die große Freiheit, sprich die Normalität, versprochen haben, wenn sie sich nur impfen ließen. Doppelt geimpft –und man genießt wieder die Leichtigkeit des Seins!

Mit dieser Haltung ging Deutschland in diesen Sommer der Leichtfertigkeit, obwohl von Medizinern und Virologen immer warnender auf die schnell abklingende Schutzwirkung der Impfstoffe hingewiesen wurde. Doch die deutsche Politik befand sich im Wahlkampfmodus und wollte das Volk nicht aus der versprochenen Sorglosigkeit reißen. Also breitete sich das Virus munter weiter aus, weil es keine Wahlkampfpausen und kein politisches Interregnum kennt und vor allem die kalte Jahreszeit schätzt, wie man es im vorigen Winter in Deutschland bereits erlebt hat.

Erst fast unmerklich und dann immer drängender begannen die Intensivärzte in den Problemregionen auf die wachsende Zahl von schweren Verläufen hinzuweisen, die das ausgelaugte und zunehmend knappere Personal an die Belastungsgrenze zu bringen droht. Doch der geschäftsführende Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verkündete noch in der ersten Oktoberhälfte, ganz im Einklang mit der sich bildenden neuen Ampel-Koalition und der vorherrschenden Leichtsinnigkeit, dass die Pandemie-Notlage enden könne. In diesem Klima gedieh dann der kapitale Fehlstart, den sich SPD, Grüne und FDP noch vor ihrer Regierungsbildung leisteten.

Ausgerechnet in einer Zeit, in der die Infektionsraten im Land bei vielen Ungeimpften, aber auch bei doppelt Geimpften auf absolute Rekordstände gestiegen sind, hat die politische Mehrheit mit dem heutigen 25. November die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ beendet. Doch das kontrafaktische Ende der Pandemie war noch nicht ausgerufen, da mussten selbst liberale Politiker, die sich im Wahlkampf lautstark für die bürgerlichen Freiheitsrechte stark gemacht hatten, Tag für Tag den zunächst massiv eingedampften Instrumentenkasten im Kampf gegen das Virus wieder nachschärfen. Selbst die FDP ist inzwischen zumindest für eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen, während sich längst ein fast überparteilicher Meinungsumschwung in Richtung Impfpflicht für alle abzeichnet. Nicht einmal ein neuer Lockdown, den es in einzelnen Problemregionen bereits gibt, scheint ausgeschlossen, wenn sich am 9. Dezember der neue Kanzler Olaf Scholz mit den Ministerpräsidenten der Länder zum nächsten Corona-Gipfel trifft.

Wut verstellt den Blick auf die Fakten

Mit Schaum vor dem Mund schreiben auch Autoren bei TE ihre Wut-Texte. Dabei sollte doch nachdenklich stimmen, wie ohnmächtig viele Regierungen auf dieser Welt auf diese Pandemie reagieren. Selbst in den liberalen Niederlanden, wo die grenzenlose Freiheit längst wieder Einzug gehalten hatte, musste die Regierung angesichts der Infektionslage erneut Beschränkungen einführen, die zu massiven Gewaltausbrüchen führten. Wer in Pandemie-Lagen vor allem auf Skandalisierung und Polarisierung setzt, wird eine Gewaltsaat säen, die sich zur Demokratiegefährdung auswachsen kann. Auch Österreich ist ein Beispiel, wie eine Regierung unter dem Diktat der extrem hohen Infektionsraten und der damit verbundenen Überforderung des Gesundheitssystems plötzlich wieder zum Mittel des Lockdown greift und gar eine allgemeine Impfpflicht durchsetzen will.

Dass die unterschiedlichsten Länder auf die immer wieder aufflammenden Corona-Wellen mit einem Hü und Hott der Notmaßnahmen reagieren, zeigt doch, wie komplex der Umgang mit der Pandemie ist. Einfache Lösungen gibt es nicht, die Methode „Versuch und Irrtum“ hat global Konjunktur. Wer gestern noch die neue Freiheit ausgerufen hat, muss sich heute vielleicht schon wieder korrigieren. Was für eine sachliche Debatte auch zu beachten ist: Gerade Länder wie Italien, Portugal und Spanien, die vor allem zu Beginn der Pandemie hohe Todesfallraten aufwiesen und die Triage anwenden mussten, weil ihre Gesundheitssysteme restlos überfordert waren, weisen viel höhere Impfraten auf als die deutschsprachigen Länder. Mit der aktuellen Folge, dass dort das Virus bei Weitem nicht so grassiert wie bei uns und die dortigen Kliniken das Geschehen beherrschen.

Sortiert die Triage nach geimpft und ungeimpft?

Wer ideologisch nicht verblendet und bei klarem Verstand ist, kann die Fakten nicht ausblenden. Dass das CoVid19-Virus keine einfache Grippe ist, haben mich die vergangenen eineinhalb Jahre traurig gelehrt. Nicht weniger als fünf Menschen in meinem engen und weiteren Bekanntenkreis sind daran gestorben – manchmal allein auf abgeschotteten Intensivstationen, in denen sie bis zu ihrem Tod wochenlang oft nicht einmal engste Angehörige zu Besuch haben durften. Zwischen 57 und 82 Jahre alt waren diese Corona-Opfer, zwei jüngere ohne jegliche Vorerkrankung, die älteren mit teilweise stattlichem Übergewicht.

In meiner Heimatzeitung las ich gestern, dass in Friedrichshafen (normal 160 OPs) und in Tettnang (normal 150 OPs) aktuell mehr als die Hälfte der geplanten wöchentlichen Eingriffe verschoben werden müssen, weil Corona-Patienten die Personalressourcen beanspruchen. Aus anderen Kliniken im Kreis Ravensburg ist mir verbürgt berichtet, dass eine weinende Ärztin nur einen Tag nach einem schweren Herzinfarkt einen Patienten mit den Worten aus dem Krankenhaus entlassen musste: „Es ist unverantwortlich, aber wir haben keine Kapazitäten, weil Corona-Intensivpatienten alle Ressourcen beanspruchen.“ Selbst ein Patient mit Schädelbasisbruch wurde ebenfalls kurzfristig wieder aus demselben Grund heimgeschickt.

Dass auch in Deutschland in der aktuellen Lage Vorbereitungen für die Triage getroffen werden, dürfte bekannt sein. In der Triage-Lage muss entschieden werden, wer noch medizinisch versorgt wird. Den Vorzug erhalten Patienten mit den größten Überlebenschancen. Der Leiter des Zentralen Aufnahme- und Belegungsmanagements am Klinikum Friedrichshafen, Maximilian Bosch, wird dazu in der Schwäbischen Zeitung wie folgt zitiert: „Ohne Angst schüren zu wollen: Jeder, der ungeimpft ist, hat keine guten Aussichten. Wenn ich als Arzt in einer Notlage triagieren müsste, würde ich mich für den Geimpften entscheiden.“ Boris Palmer, das Enfant terrible der Grünen, den sie jetzt endgültig aus der Partei ausschließen wollen, hat das polarisierende Thema kürzlich von der anderen Seite zugespitzt. Wer sich partout nicht impfen lassen wolle, solle doch einfach per Patientenverfügung bekunden, dass er im Fall einer schweren Corona-Erkrankung keine intensivmedizinische Betreuung wünscht. Für die zahlenmäßig weit größere Gruppe der Geimpften und deren weit unterdurchschnittlich schweren Krankheitsverläufe stünden dann genügend Intensivbetten bereit.

Abgewandelt nach dem Motto, das man aus der Finanzkrisen-Welt kennt – „Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren“ –, heißt dann die Losung in der Pandemie: „(Geringe) Impfrisiken individuell vermeiden, aber mit einer schweren Corona-Erkrankung auf jeden Fall die kollektive Intensivmedizin in Anspruch nehmen!“ Ich weiß, das klingt polemisch, trifft aber den Kern. Denn Abermillionen von bisher freiwillig Geimpften tragen das weit höhere Risiko der viel kleineren Gruppe der Ungeimpften mit. Hier stehen Egoismus und die so oft eingeforderte Solidarität in einem eklatanten Missverhältnis.

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