Karlsruhe reiht sich wieder in die Phalanx des gutgläubigen „Ever closer union“-Establishments der deutschen Politik ein. Kurzerhand erklärte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) heute die Anträge von Peter Gauweiler für unzulässig, ließ die von ihm monierte Missachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung durch Bundesregierung und Bundestag ungerügt. Somit hat es die von Gauweiler und seinem Prozessvertreter Prof. Dr. Dietrich Murswiek am 7. August 2020 beantragte so genannte Vollstreckungsanordnung zur Durchsetzung des spektakulären PSPP-Urteils zurückgewiesen.
Dabei hatte das BVerfG am 5. Mai 2020 mit einem juristischen Paukenschlag im sogenannten Gauweiler-Urteil den Aufstand gegen die Mandatsüberdehnung der Europäischen Zentralbank (EZB) geprobt, weil sie die Verhältnismäßigkeit ihres milliardenschweren Anleihekaufprogramms PSPP nicht ausreichend belegt hatte. Gleichzeitig kritisierten die deutschen Verfassungsrichter ihre Kollegen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) harsch, weil sie zuvor auf einen mit kritischen Anmerkungen gespickten Vorlagenbeschluss des BVerfG mit einem unbegrenzten Freibrief für die EZB-Anleihekaufprogramme reagiert hatten. Binnen drei Monaten sollten sich Bundesregierung und Bundestag von der EZB die Verhältnismäßigkeit belegen lassen. Ansonsten sollte der Bundesbank untersagt werden, sich weiter an den Anleihekäufen zu beteiligen.
Damals hatten die Karlsruher Richter für ihre Entscheidung harte Kritik aus der europäischen und der deutschen Politik geerntet. Uneingeschränkte politische Zustimmung zum Urteil hatte es im Bundestag nur von der AfD-Fraktion und wenigen Kritikern in der Unions- und FDP-Fraktion gegeben, die sich nicht zur naiven „EU-Vergemeinschaftungs-Community“ zählen lassen. Eine riesige Parlamentsmehrheit aus Union, SPD, FDP und Grünen ließ sich dann vor der letztjährigen parlamentarischen Sommerpause von einem abgekarteten Begründungsspiel blenden, mit dem die Drei-Monats-Auflage der Karlsruher Richter nach einer Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB angeblich erfüllt sein sollte. Die EZB übersandte Unterlagen und Dokumente an die Bundesbank, die wiederum an die Bundesregierung, um damit zu belegen, dass sie ihr Mandat nicht überdehnt habe. Die Regierung akzeptierte diese Fake-News aus dem EZB-Tower und die übergroße Bundestagsmehrheit folgte ihr. Denn von einer substanziellen Prüfung der Verhältnismäßigkeit, die „der EZB-Rat in einem neuen Beschluss nachvollziehbar darlegt“, wie es das BVerfG in seiner Gauweiler-Entscheidung gefordert hatte, konnte damals keine Rede sein.
Doch das BVerfG hat bei seiner heutigen Entscheidung ein spitzfindiges Schlupfloch gefunden, um sich um die Entscheidung zu drücken, ob die Pro-Forma-Begründung der EZB tatsächlich substanziell die von ihm gesetzten Begründungsauflagen erfüllt. Nur die völlige Untätigkeit der EZB und der deutschen Staatsorgane hätte nach Auffassung der Verfassungsrichter zum Erfolg eines Antrags auf Erlass einer Vollstreckungsanordnung führen können. Doch schließlich habe der EZB-Rat ja über die Frage der Verhältnismäßigkeit geredet und sie bejaht, was sowohl die Bundesregierung wie auch der Bundestag akzeptiert haben. Damit sei ein neuer Sachverhalt gegeben, über den nicht in einem Vollstreckungsverfahren entschieden werden könne.
Reichlich frustriert klingt ein entscheidender Satz, mit dem Peter Gauweiler diese Ausflüchte der Verfassungsrichter kommentiert: „Wenn die Staatsorgane ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht befolgen, können die betroffenen Beschwerdeführer sich – außer im Falle völliger Untätigkeit – dagegen nur mit einer neuen Verfassungsbeschwerde wehren. So kann ein Kreislauf immer neuer Verfassungsbeschwerdeverfahren in Gang gesetzt werden, der sich in sich selbst dreht, ohne das Recht durchzusetzen.“
Das Bundesverfassungsgericht verabschiedet sich von der deutschen Verfassungsidentität
Als sich vor einem Jahr Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle aus dem höchsten deutschen Gericht verabschiedete, spekulierte ich bereits über einen europapolitischen Kurswechsel (Kurswechsel im Bundesverfassungsgericht nach Voßkuhles Abgang?) in Karlsruhe. Voßkuhle, der als Richter noch am wegweisenden Lissabon-Urteil (2009) beteiligt war und als letzte Entscheidung das Gauweiler-Urteil vom Mai 2020 mitverantwortete, hatte immer auf die nationale Verfassungsidentität gepocht, die nicht durch die ständige Selbstermächtigung europäischer Institutionen unterlaufen werden dürfe. Genau darauf stützt sich auch die im Lissabon-Urteil groß herausgestellte Kompetenz des deutschen Verfassungsgerichts zur Ultra-Vires-Kontrolle, also zur Prüfung von Kompetenzüberschreitungen der EU-Organe. Doch diese Kompetenz beschneidet sich Karlsruhe sehenden Auges, wenn es nicht einmal willens ist, sein Urteil – wie im PSPP-Fall – auch durchzusetzen, sondern Feigenblatt-Begründungen akzeptiert.
Die heutige Entscheidung werte ich auch als Menetekel für alle, die darauf hoffen, dass die anhängigen Verfassungsbeschwerden gegen das gigantische Corona-Notfall-Anleihekaufprogramm PEPP Aussicht auf Erfolg haben könnten. Dass es sich dabei um einen klaren Fall von verbotener monetärer Staatsfinanzierung handelt, müssten die Richter bejahen, weil es keine begrenzenden Auflagen mehr gibt wie beim alten PSPP-Programm. Doch genau diese Leitplanken waren im Gauweiler-Urteil vom Mai 2020 der entscheidende Grund dafür, dass die Verfassungsrichter die verbotene monetäre Staatsfinanzierung beim PSPP noch nicht als gegeben ansahen. Verfassungsklagen gegen das aktuelle PEPP-Kaufprogramm lagen damals noch nicht vor. Doch EU-freundliche Richter werden findig genug sein, auch hier die selbst gesteckte Messlatte argumentativ zu reißen. Der Marsch in den europäischen Zentralstaat wird auch in Karlsruhe nicht mehr aufgehalten.