Der Retro-Sozialismus hat Konjunktur. In den USA wirbt die junge Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez ebenso wie der ergraute Bernie Sanders für das sozialistische Wirtschaftsmodell, in Großbritannien hat mit Jeremy Corbin ein Alt-Sozialist sogar die Chance, nächster Premierminister zu werden. In Deutschland phantasiert der Juso-Bundesvorsitzende Kevin Kühnert von der Vergesellschaftung von Unternehmen, während in Berlin eine Initiative zur Enteignung von großen Wohnungsunternehmen Furore macht, für die selbst der aktuelle Grüne Polit-Star Robert Habeck Sympathie bekundet.
Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis. Übersatt und geschichtsvergessen kapriziert sich die gesellschaftspolitische Debatte in Deutschland auf die Einkommensunterschiede, mobilisiert Neid, statt sich immer wieder der Grundlagen des breiten Wohlstands in unserer marktwirtschaftlichen Ordnung zu vergewissern. Gegen die Emotionen, die Retro-Sozialisten wecken können, tun sich ordoliberale Markwirtschaftler allerdings traditionell schwer. Dabei belegen doch alle historischen Beispiele, dass materielle Gleichmacherei nicht nur dem Freiheitsanspruch des homo oeconomicus widerspricht. Wie die untergegangene DDR oder das aktuelle Beispiel Venezuela belegen, mündet die sozialistische Misswirtschaft zwangsläufig im Totalitarismus, entmündigt und unterdrückt die schöpferische Freiheit des Individuums. Auch China taugt trotz seiner ökonomischen Erfolge erst recht nicht als System-Vorbild.
Schon Ludwig Erhard, der Vater der Sozialen Marktwirtschaft, war sich über die entscheidende Voraussetzung für dieses Wirtschaftsmodell bewusst. Es brauchte für seine Legitimität vor allem wirtschaftlichen Erfolg: „Wohlstand für alle und Wohlstand durch Wettbewerb gehören untrennbar zusammen; das erste Postulat kennzeichnet das Ziel, das zweite den Weg, der zu diesem Ziel führt.“ Weil er befürchtete, dass die marktwirtschaftliche Ordnung durch das Schüren von Neidgefühlen ausgehebelt werden könnte, wollte er die Bürger mit „Volksaktien“ am Produktivvermögen beteiligen. Doch dieses Rezept setzte sich nie durch, nicht nur weil die Gewerkschaften lieber für höhere Löhne als für die Mitarbeiterbeteiligung an Unternehmen stritten, sondern auch weil das Volk von der VW- bis zur Telekom-Aktien schlechte Erfahrungen mit „Volksaktien“ machte. Wie Daniel Stelter auf Tichys Einblick schon wiederholt beschrieben hat, resultiert die Vermögensschwäche deutscher Haushalte von ihrer falschen Kapitalanlagestrategie, die auf Sparbücher und Lebensversicherungen setzt und Aktien meidet wie der Teufel das Weihwasser.
Genau hier setzt ein Vorschlag an, den das renommierte Münchner ifo-Institut jüngst präsentierte: „Das Konzept eines deutschen Bürgerfonds“. Auch ifo-Präsident Clemens Fuest zählt zu den vier Mitautoren. Ihr Ziel ist der Aufbau eines Staatsfonds, der seine Erträge vorwiegend aus der breit und international gestreuten Anlage von Aktienbesitz erzielt. Solche Staatsfonds gibt es viele auf der Welt. Norwegen beispielsweise legt so die Erlöse aus seinen endlichen Erdölvorkommen gewinnbringend als Vorsorge für die Zukunft an. Mit einem Vermögen von 944 Milliarden Euro ist sein „Government Pension Fund – Global“, dessen Portfolio derzeit zu zwei Dritteln aus Aktien, zu 30 Prozent aus festverzinslichen Wertpapieren und zu 3 Prozent aus Immobilien besteht, derzeit der gewichtigste Staatsfonds der Welt. Zwischen 1999 und 2018 erzielte dieser Fonds eine durchschnittliche jährliche Rendite von 5,47 Prozent.
Deutschland verfügt aber bekanntlich über keine Rohstoffe, aus deren Verkaufserlösen Kapitalanlagen finanziert werden könnten. Doch die hervorragende Bonität Deutschlands als Schuldner ließe sich als Schatz heben, der für die Vermögensbildung und zur Vermeidung der Altersarmut gerade einkommensschwächerer Schichten genutzt werden könnte. Der Bürgerfonds soll den Renditevorteil abschöpfen, den die extrem niedrigen Zinsen bewirken, für die sich Deutschland am Kapitalmarkt finanzieren kann. Jährlich sollte Deutschland nach der ifo-Konzeption Kredite in Höhe von 0,5 Prozent des BIP aufnehmen und diese Summe in den Bürgerfonds einzahlen. Der Kreditaufnahme stünde auf der anderen Seite ein Vermögensaufbau entgegen, weil bei kalkulierten Zinskosten von 3 Prozent und einer Fondsrendite von 5 Prozent tatsächlich ein Vermögensaufbau stattfände. Das Projekt würde aufgrund seiner Konstruktion weder gegen die grundgesetzliche Schuldenbremse noch gegen die europäischen Stabilitätsregeln verstoßen.
Verwaltet werden sollte dieser Bürgerfonds von der Bundesbank, um ihn der tagespolitischen Einflussnahme zu entziehen, so der ifo-Vorschlag. Je nach Ausgestaltung würden entweder alle Einwohner zwischen dem 15. und dem 67. Lebensjahr oder nur die deutschen Staatsbürger ein individuelles Konto eingerichtet erhalten, auf dem die Erträge verbucht werden. Die Simulationen des ifo-Instituts ergeben ein spannendes Ergebnis vor allem auf die lange Sicht. Bei den konservativ unterstellten 2 Prozent Renditevorsprung des kreditfinanzierten Bürgerfonds bekäme nach fünfzig Jahren Laufzeit ein 67-jähriger Bürger ein Kapital von 16.000 Euro ausbezahlt. Der Betrag ist inflationsbereinigt und zu Preisen des Jahres 2020 gerechnet.
Bei der Vorstellung dieses Konzepts erläuterte ifo-Präsident Fuest: „Wegen des seit Jahren niedrigen Zinsniveaus fällt es vielen Menschen heute schwer, privates Vermögen aufzubauen. Gleichzeitig werden bei vielen die Leistungen der umlagefinanzierten Rentenversicherung kaum ausreichen, um eine gute Versorgung im Alter zu sichern. Hier könnte das Instrument eines ‚Deutschen Bürgerfonds‘ einspringen“. Angesichts der retro-sozialistischen Lockrufe und Ludwig Erhards legendärem Appell „Wohlstand für alle“, ohne den die Legitimität der marktwirtschaftlichen Ordnung immer aufs Neue gefährdet erscheint, klingt das Abschlusszitat von Fuest wie ein Lösungsrezept: „Da die Bürger selbst keine zusätzlichen Einzahlungen aus ihrem Einkommen leisten müssten, um das Vermögen aufzubauen, ist der ‚Deutsche Bürgerfonds‘ vor allem für Menschen interessant, die wenig verdienen“.