Tichys Einblick
DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz

Der letzte Mohikaner

Mutig, aufrecht und unbequem auch in den Reihen der Grünen: DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz starb ausgerechnet am Jahrestag des Mauerfalls – seines Feiertags der deutschen Einheit.

IMAGO/Müller-Staufenberg

Für die Demokratie ist es ein großer Verlust. Aufrechte und standhafte Typen gibt es kaum noch. Ein Mensch und Politiker mit Sinn für Freiheit und Andersdenken lebt nicht mehr. DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz verstarb tragischerweise am 33. Tag des Mauerfalls am 9. November 2022 – seines Feiertages der deutschen Einheit.

Vor 33 Jahren lernte ich ihn als einen der ersten Abgeordneten für Bündnis 90 in der letzten DDR-Volkskammer 1990 kennen, besser gesagt im Labyrinth des ehemaligen SED-Zentralkomitees, wo die erstmals freigewählten Parlamentarier ihre Büros Ende März bezogen. Schulz war vom Neuen Forum einer der drei Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und ich war als Parlamentsreporter für die Ost-Berliner Zeitung Der Morgen in den schier endlosen Gängen des ZK unterwegs. Er fiel mir mit seiner klaren und offenen Art sofort auf. Über die Jahre kamen wir uns immer näher. Ich schätzte ihn als Menschen sehr, denn so würde man sich einen Politiker wünschen: nicht einfach, aber überzeugend und klar – und vor allem unabhängig.

Auch mit 72 Jahren blieb der einstige Politiker der Bündnisgrünen, was er war und was ihn auszeichnete, rhetorisch brillant, geistig wach, leidenschaftlich, liberal und vor allem unbequem. Schulz war nicht nur in der DDR ein mutiger Oppositioneller, sondern auch in Gesamtdeutschland wie auch bei seiner Partei. Von solcher Art gibt es fast keine mehr – vor allem bei den heutigen ideologischen Grünen.

So tragisch es klingt, aber die Grünen hatten ihn seit 2015 praktisch kaltgestellt und auf seine Erfahrungen und Verdienste im Grunde verzichtet. Wer unbequem ist und nachdenkt, stört nur die Pläne grüner Führungskreise. Schulz hielt meist nur noch Vorträge oder war Ehrengast bei Veranstaltungen und Gesprächspartner bei einigen Medien. Obendrein zog er sich ins Private auf das Dorf Kuhz in der Uckermark zurück.

Dabei gehörte er zu den DDR-Oppositionellen in der Kirchenbewegung, die in einer sozialistischen SED-Diktatur intelligent und friedlich Widerstand leisteten, bis zum Fall der Mauer im Herbst 1989.

In der ersten freigewählten Volkskammer deckte vor allem er mit seiner Gruppe Bündnis 90 die Machenschaften des DDR-Regimes und seines Staatssicherheitsapparates auf, von dem noch einige Ex-SED-Genossen im Bundestag sitzen.

Lieber blühende Landschaften statt Pessimismus

Bürgerrechtler Schulz, obwohl ein kritischer Begleiter der deutschen Einheit, konnte den linken Pessimismus daran nie teilen. In seiner Bilanz zum 25. Jahrestag der Einheit, um die ich ihn bat, sah er viel Licht und nur wenig Schatten. Eine Mauer im Kopf konnte er bei vielen nicht mehr erkennen, nur bei einigen immer noch das Brett davor: „Die einen leugnen blühende Landschaften, und die anderen sehen den Osten als Dunkeldeutschland.“ Dass so ein Unbequemer bei den heutigen Grünen und selbst anderen Parteien nicht willkommen ist, dürfte keinen verwundern.

Vor ein paar Jahren fragte ich ihn, warum er als freiheitsliebender und liberaler Geist noch bei den Grünen sei. „Warum soll ich ihnen den Gefallen tun und austreten,“ antwortete er. Zudem war es für ihn trotz aller Distanz zur Führung auch ein Stück Heimat. Schulz hatte sein Bündnis 90 im Jahr 1993 in Leipzig erfolgreich mit den westdominierten Grünen fusioniert. Selbst wenn DDR-Bürgerrechtler bei den Grünen heute keine Rolle mehr spielen – er war gekommen, um zu bleiben.

Der streitbare, gelernte Lokomotivschlosser, geboren im sächsischen Zwickau und später zu Hause in Berlin-Pankow, störte nicht nur in den 70er-Jahren als DDR-Oppositioneller die herrschenden SED-Kreise, auch in der westlichen Demokratie mischte er gern Rituale auf.

Etwas rebellisch und vor allem leidenschaftlich auch nach 1989

Auch nach dem Mauerfall wollte sich der mutige Bürgerrechtler aus Ost-Berlin keinem Diktat beugen. Vor allem mit seinem Intimfeind Joschka Fischer führte er harte Auseinandersetzungen.

Nach der verlorenen Bundestagswahl durch die Westgrünen, die die deutsche Einheit nur als Risiko sahen, hielt eine Gruppe von acht Bundestagsabgeordneten aus dem Osten von Bündnis 90/Die Grünen die Fahne der Alternativen im ersten gesamtdeutschen Parlament seit 1945 aufrecht. Deren Sprecher und Parlamentsgeschäftsführer war Werner Schulz. Einen außerordentlichen Dank der Westgrünen für die harte Arbeit erhielten er und seine Kollegen später nicht. Im Gegenteil, sie wollten ihn und seine Bürgerrechtler wie Vera Lengsfeld oder Konrad Weiß schnell beiseite räumen.

Dennoch verschaffte sich Bürgerrechtler Schulz in kurzer Zeit die Achtung und den Respekt vieler Kollegen im Bonner Bundestag bis hin zu den damals ganz großen am Rhein wie Kanzler Helmut Kohl (CDU), Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP), Finanzminister Theo Waigel (CSU) oder Ex-Kanzler Willy Brandt (SPD). Mit Oskar Lafontaine oder Joschka Fischer hingegen verband Schulz sehr wenig. Bürgerrechte und Freiheit waren ihm wichtiger als Ideologien. Diese Zeit glaubten damals viele DDR-Bürger hinter sich, im Gegensatz zum grünen Reich von heute.

Als die Grünen bei der Bundestagswahl 1994 wieder ins Parlament einzogen, verdrängte Fischer den DDR-Oppositionellen im Bundestag ganz schnell. Er übernahm den Fraktionsvorsitz. Schulz durfte Parlamentsgeschäftsführer bleiben. Dabei lernte der Ost-Berliner Sachse schnell, dass man dem menschlich durchtriebenen und machtgierigen Fischer nicht über den Weg trauen durfte. Ging Werner Schulz mit einer Idee zu seinem Fraktionschef, verkaufte dieser den Vorschlag umgehend in der Grünen-Fraktion als eigenes Fischer-Thema. So krachten beide oft aneinander. Schulz stellte den Vortrag seiner pfiffigen Ideen beim heimlichen Grünen-Vorsitzenden ziemlich schnell ein.

Nach dem Bundestagswahlsieg von Rot-Grün 1998 rächte sich Fischer am eigenständigen Schulz, indem er ihn als Fraktionsvorsitzenden verhinderte und stattdessen seinen willigen Spezi Rezzo Schlauch aus dem Ländle zum Chef wählen ließ.

Das hatte Schulz ziemlich mitgenommen, so hatte er sich Demokratie nicht vorgestellt. Jahre später erzählte mir Schulz eine Episode über Joschka Fischers respektlosen Umgang mit Menschen. Um Schulz ruhig zu stellen, bot Fischer als Bundesaußenminister in spe nach den Koalitionsverhandlungen im Spätherbst 1998 beim Bonner Grünen-Italiener „Pelato“ abends dem unbeugsamen Bürgerrechtler im knarzigen Ton an: „Werner, willste bei mir Staatssekretär werden?“ Schulz konterte souverän: „Würdest Du denn unter Dir Staatssekretär sein wollen?“ Fischer wendete sich wutschnaubend ab. Schulz ließ sich nicht kaufen.

Unbequem und aufrecht bis zuletzt

So blieb auch Bürgerrechtler Schulz im bundesdeutschen Politikbetrieb weiter unbequem und unbeugsam. Vor allem deswegen mochten ihn die Führungsfiguren aus dem Westen um ihren grünen „Gottvater“ Fischer und seine Nachfolger nicht. Schulz war immerhin zum Ärger der rot-grünen Regierung von SPD-Kanzler Gerhard Schröder und seinem Vize Fischer ein bekennender Gegner der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 und der Agenda 2010 gewesen. Schulz hielt mit seiner „persönlichen Erklärung“ am 1. Juli 2005 eine der bemerkenswertesten Reden im Deutschen Bundestag: „Schon der erste Satz Ihres Antrages, Herr Bundeskanzler, ist unwahr. Sie wollen doch gar nicht, dass man Ihnen das Vertrauen ausspricht. Sie wollen diese Abstimmung verlieren. Sie suchen einen Grund für Neuwahlen und damit das organisierte Misstrauen.“

Weiter warf der Grünen-Abgeordnete Schulz Kanzler Schröder vor: „Sie suchen eine neue Legitimation für Ihre Politik, doch diese Art von Stimmungsdemokratie sieht unser Grundgesetz nicht vor.“ Und: „Sie haben den Satz von Einstein an Ihrem Kanzleramt nicht verstanden: Der Staat ist für die Menschen da, nicht die Menschen für den Staat.“

Seine Klage vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe gegen die Auflösung des Parlaments wiesen die Richter als unbegründet ab, für die Neuwahl im vergangenen Herbst stellten ihn die Grünen in Berlin prompt nicht mehr auf.

Kalt gestellt und doch wieder ins Parlament gekommen

Er wisse, wie lange Strecken man gehen muss, um Erfolg zu haben, erklärte Schulz danach: „Da haut mich eine Niederlage nicht um.“

Immer wieder versuchte die Grünen-Führung, den aufrechten und ihre Kreise störenden Bürgerrechtler aus dem Osten kalt zu stellen. So zum Beispiel am 24. Januar 2009 auf dem Dortmunder Europaparteitag der Grünen. Hier sollten die vorderen und sicheren Plätze durch eine weit vorher abgesprochene Liste zwischen Linken und Realos abgestimmt werden, und natürlich ohne Schulz. Der mit 15 Bundestagsjahren erfahrene Politiker und Wegbereiter der Fusion von Bündnis 90 und den Grünen im Jahr 1993 wurde im weiten Vorfeld nur als Störenfried intern längst verabredeter Kandidaturen gesehen.

Die Tradition der Bürgerrechtler aus dem Osten war den Parteioberen damals im 20. Jahr des Mauerfalls völlig egal. Schulz, der sich nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag 2005 mit Vorträgen und Moderationen beschäftigte, wollte es noch einmal wissen. Der Weckruf der Opposition aus DDR-Zeiten blieb für ihn lebendig – „Jetzt oder nie – Demokratie!“

Mit einer fulminanten Rede durchkreuzte der Bürgerrechtler die Pläne der grünen Spitzenfunktionäre. Europa müsse Freiheit wagen, „die Freiheit der Einzelnen und die Freiheit einer offenen Gesellschaft ohne permanente Überwachung, Datenspeicherung, Online-Durchsuchung, Nacktscanner, biometrischer Rasterfahndung“, mahnte er damals. Das alles ist heute jedoch auch mit Hilfe der Grünen Realität geworden. Vielleicht ließ ihn die zunehmende Unfreiheit immer mehr verzweifeln im 33. Jahr des Mauerfalls.

2009 jedenfalls brachte er den Saal auf seine Seite und eroberte den sicheren Listenplatz sechs. Nach seiner Wahl bemerkte ich, dass er sich plötzlich vor Gratulationen falscher Parteifreunde kaum retten könne. „Die schämen sich nicht einmal“, meinte er lachend. So ist Politik.

Schulz engagierte sich durch seinen Alleingang noch einmal fünf Jahre bis 2014 als Parlamentarier, diesmal in Brüssel und Straßburg. Danach schob ihn die grüne Partei endgültig aufs Altenteil. Schulz zog sich in Brandenburgs Uckermark nach Kuhz zurück, modernisierte einen alten Pfarrhof, sammelte Geld für die Sanierung der Dorfkirche und kümmerte sich die letzten Jahre rührend um seine schwerkranke Frau.

Für Schulz sollte der 9. November ein Feiertag sein

Dass er ausgerechnet am 9. November, dem 33. Tag des Mauerfalls, den er immer gerne als nationalen Feiertag gesehen hätte, bei einer Veranstaltung beim Bundespräsidenten in Bellevue an einem Kreislaufzusammenbruch sterben musste, ist ein furchtbares Schicksal.

Bundeskanzler Helmut Kohl hatte früher mit Schulz über einen nationalen Feiertag zur deutschen Einheit gesprochen. Der Bürgerrechtler warb für den 9. November, den Tag des Falls der Mauer und des endgültigen Untergangs der sozialistischen SED-Diktatur durch die friedliche Revolution der Ostdeutschen auf den Straßen. Kohl verstand Schulz, aber der erfahrene Kanzler witterte schon damals Ranküne linker Kreise, die die Feier der deutschen Einheit und den Untergang des Sozialismus untergraben wollten. Die Freude über den Mauerfall könnte durch die Last der Reichspogromnacht getrübt werden, waren Kohls Befürchtungen. Deswegen war er für den Tag des Vollzugs der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990. Eine Befürchtung, die sich heute leider bewahrheitet. Denn genau das ist 33 Jahre später passiert. In Nachrichten der staatstragenden Medien haben die düsteren Erinnerungen an die Reichspogromnacht das Glücksereignis des Mauerfalls fast komplett verdrängt.

Werner Schulz bezeichnete, anders als Kohl, den 3. Oktober schon immer als „unseren falschen Nationalfeiertag“. In einem Gastkommentar für die Welt begründete er seinen Feiertag für die deutsche Einheit: „Die Wiedervereinigung fand am 9. November statt. Als die Berliner Mauer von beiden Seiten der Stadt überwunden wurde und sich die Menschen in den Armen lagen. Es war ein Akt der Selbstbefreiung des Volkes, der friedlichen Protestbewegung der DDR und nicht das Werk der großen Politik.“

Besser kann man es nicht formulieren.

Schulz betrachtete anfangs den Tag der Deutschen Einheit mit Distanz. Während am Abend des 3. Oktober 1990 der Festakt zur deutschen Einheit vor dem Reichstag seinem Höhepunkt zustrebte, saß Bürgerrechtler Werner Schulz, inzwischen Volkskammerabgeordneter von Bündnis 90, im Palast der Republik und trank Meißner Wein. Im Linden-Restaurant genoss der damals 40-jährige Sachse mit Frau und Freunden Rebsaft aus dem Anbaugebiet seiner Heimat, den es sonst im Laden nicht zu kaufen gab.

Schulz gab in dieser historischen Stunde eine Nationalhymne der anderen Art zum Besten. Auf Haydns Melodie sang er den Text von Bertolt Brechts Kinderhymne: „Anmut sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand, dass ein gutes Deutschland blühe wie ein anderes gutes Land.“

Der singende Diplom-Ingenieur für Lebensmitteltechnologie aus Zwickau war in diesen Stunden fast genauso alt wie der gerade untergegangene Arbeiter- und Bauern-Staat. Am 7. Oktober 1990 wäre der 41. Jahrestag der DDR gewesen. Auch deswegen zogen die Verhandler den 3. Oktober als Einheitstag vor. „Die Mehrheit der Abgeordneten in der frei gewählten Volkskammer wollte keinen Jahrestag der DDR mehr erleben“, erinnerte sich der bündnisgrüne Bürgerrechtler.

Einer wie Schulz blieb schon immer gern anders. Während die Mehrheit der Ostdeutschen den schnellen Beitritt zur Bundesrepublik und die D-Mark wollten, warben seine Leute und auch seine Kollegin Bärbel Bohley vom Neuen Forum für einen eigenen Weg der DDR zur deutschen Einheit mit neuer Hymne und neuer Verfassung für ganz Deutschland. Der staatliche Vollzug der Einheit kam vielen Bürgerrechtlern zu schnell, sie fühlten sich von den West-Politikern überrumpelt. Sie hatten immer versucht, die friedliche Revolution von 1989 in die Tradition der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848 zu stellen. „Deswegen hatten wir den Wahltermin 18. März 1990 für die erste freie Volkskammerwahl durchgesetzt“, sagte Schulz vor Jahren stolz. Darum wollten die Bürgerrechtler auch den 9. November als nationalen Feier- und Gedenktag. „Ein Tag, der unsere Nationalgeschichte von der Frankfurter Paulskirche bis zur Leipziger Nikolaikirche beschreibt“, erklärte Schulz seine schöne Idee, die heute von Politik und Medien immer mehr in den Hintergrund gedrängt wird.

Denn am Tag, an dem Werner Schulz starb, musste er in Bellevue zuvor Forderungen hören, die ihm seine Freude an seinem wahren Feiertag nahmen. So sprach sich der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk bei der Veranstaltung diesen Mittwoch im Sitz des Bundespräsidenten dafür aus, am 9. November ausschließlich der Verfolgung der Juden im Nationalsozialismus zu gedenken. Der Gedenktag solle allein den jüdischen Opfern der Schoah gehören, forderte der sogenannte Experte für DDR-Geschichte bei der Tagung zur Ambivalenz des deutschen Gedenktags auf Einladung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) im Berliner Schloss Bellevue. Mauerfall und die friedliche Revolution der DDR-Bürger sollen also keine Rolle mehr spielen am 9. November.

Schulz brach am Rande dieser Konferenz zusammen, bevor er selber noch reden und seine Ansichten zum 9. November darstellen konnte. Arzt Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, versuchte den Bürgerrechtler vergeblich zu reanimieren. Die Tagung wurde dann nach einer Schweigeminute der Teilnehmer abgebrochen.

Ein mutiger, unabhängiger und aufrechter Bürgerrechtler starb an seinem Feiertag der deutschen Einheit am 9. November 2022 – 33 Jahre nach dem Mauerfall. Was für ein tragischer Tod.

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