Rechnen Sie bei der EU-Wahl am 9. Juni 2024 mit einer Richtungswahl?
Gergely Gulyás: Ja, die Haupttrennlinie ist nicht mehr zwischen links oder rechts, liberal oder konservativ, sondern zwischen Föderalisten und den Kräften, die an die freiwillige Zusammenarbeit der europäischen Nationalstaaten, geregelt durch unsere Verträge, festhalten.
Könnten die konservativen Parteien dabei zulegen?
Gergely Gulyás: Wenn wir von der jetzigen Fraktionskonstellation ausgehen, glaube ich, dass die Europäischen Konservativen und Reformisten sich verstärken werden und dass die ID-Fraktion auch Zugewinne erwarten kann.
Inwiefern welche Parteien der europäischen Volkspartei noch konservativ sind, muss man einzeln prüfen. Ich glaube, dass sich die EVP besonders in gesellschaftlichen Fragen und der Erweiterung der gesamteuropäischen Kompetenzen sehr oft an den Grünen und Liberalen orientiert. Dies ist ein trauriger Identitätsverlust.
Aber alles in allem glaube ich, dass die konservativen Abgeordneten eine viel stärkere Stimme im nächsten Parlament haben werden.
Diesbezüglich muss ich erwähnen, dass nach unserer Auffassung das Europäische Parlament ein Konsultationsorgan ist, das alleine keine Gesetze verabschieden kann und das sollte auch so bleiben.
Werden die EU-Bürger ein Zeichen für sichere Grenzen und strenge Kontrollen setzen?
Gergely Gulyás: Der ungarische Standpunkt, der seit 2015 konsequent für Außengrenzschutz steht, dass wir den Schengener Raum erhalten können, wird bei der nächsten Wahl gestärkt. Illegale Massenzuwanderung schwächt die einzelnen Staaten und führt zu kulturellen und wirtschaftlichen Herausforderungen, die von den europäischen Gesellschaften immer schwerer getragen werden. Wir Ungarn sind tolerant gegenüber den Regierungen und Staaten, die mit der Massenmigration zusammenleben wollen, aber wir erwarten auch Toleranz gegenüber unserem Weg, der besagt, dass wir Ungarn entscheiden möchten mit wem wir zusammenleben werden.
Kommt es bald zu massenhaften Einwanderungen aus Palästina nach Europa wie der schottische Premierminister Humza Yousaf fordert?
Gergely Gulyás: Das hängt von Ägypten ab. Wenn eine Massenflucht von Gaza Wirklichkeit wird, dann müssen wir, die ganze EU, mit Ägypten eine Vereinbarung schließen, dass wir bereit sind alle Formen der humanitären und finanziellen Hilfe zu leisten, wenn wir Garantien bekommen, dass Ägypten den Flüchtlinge aus Gaza Asyl zusichert und sie nicht weiterreisen lässt.
Glauben Sie, dass das Ungarnbild der deutschen Politik und Medien die Wirklichkeit widerspiegelt?
Gergely Gulyás: Die absichtlichen Falschinformationen der deutschen Medien über Ungarn sind berüchtigt. Wir kennen unzählige Beispiele dafür.
Letztes Jahr hat Ministerpräsident Viktor Orbán in einer Rede gesagt: „Wir unsererseits wollen die Europäische Union zusammenhalten, und deshalb haben wir Brüssel und Berlin immer wieder Toleranzangebote gemacht.“
Darüber hat die Presseagentur dpa als Schlagzeile folgendes geschrieben: „Orban deutet auf die Möglichkeit eines Austritts Ungarns aus der EU hin.“ Diese Art und Weise der Scharade (Täuschung) ist alltäglich. Das ist kein Journalismus, das ist das Fälschen der Informationen.