Tichys Einblick
Krieg in Europa

Vernunft und Zusammenhalt statt Spalten

Der Überfall Russlands auf die Ukraine ist schlimm, das Kriegsleid groß, genauso aber die Solidarität mit den Menschen auf der Flucht und vor Ort in deren bedrohter Heimat. Leider wird in so einer schicksalhaften Lage die Gesellschaft erneut wie bei Klima und Corona gespalten.

IMAGO / Steinach

Wer russisch spricht, lebt in Deutschland inzwischen gefährlich. Wer russisch spricht oder einen russisch klingenden Namen trägt, steht dieser Tage schon unter Generalverdacht, ein Knecht von Russlands Machthaber Wladimir Putin zu sein. Und das in einer Gesellschaft, die anderen Ländern gegenüber stets von einem hohen moralischen Standpunkt aus argumentiert. Europäische Nachbarn sprechen sogar schon von deutschen Belehrungen. Anstatt einen liberalen Umgang mit anderen Menschen und Ansichten gerade in so bedrohlichen Zeiten zu pflegen, sehen sich erneut Aktivisten beauftragt, über andere zu urteilen.

„Weil wir hier Russisch sprechen, werden wir boykottiert“, klagen osteuropäische Gastwirte in Berlin. In der Bundeshauptstadt lebt die größte Gemeinde aus Russland und den früheren Sowjetrepubliken. Es kommen immer weniger Gäste zum Beispiel in das russische Restaurant „Datscha Kreuzberg“. Es seien bis zu 30 Prozent weniger, klagen Mitarbeiter, sie merken es auf jeden Fall. Das Restaurant habe auch schlechte Bewertungen auf Google bekommen. Gäste, die nicht einmal hier waren, hätten zum Beispiel geschrieben: „War zwar nett, aber im Vergleich zur ukrainischen Küche nicht so freundlich“, berichtet der Lokalsender rbb auf seinem Online-Portal. Dabei seien die Mitarbeiter aus Russland und der Ukraine alle gegen den Krieg. Ähnlich ergeht es den Betreibern von kleinen Imbissbuden. „Mit Russen spielen wir nicht“, beschreibt selbst der Südkurier das Mobbing von Schulkindern im Südwesten, das es vor allem in Berlin bei russisch sprechenden Jugendlichen und gegenüber Russisch-Klassen gibt.

Eine Gesellschaft verliert weiter ihren Takt

Auch Radio Russkij Berlin steht im Visier von Anfeindungen, will sich sogar dem öffentlichen Druck beugen und künftig umbenennen. Werbekunden hätten zahlreiche Sendeaufträge storniert. Über diese Anti-Russenstimmung berichtet inzwischen sogar das ZDF in seinem heute journal. Radio Russkij sendet auf Russisch im Web und lokal in Berlin auf 97,2 FM für seine Zielgruppe von fast 300.000 Menschen aus der früheren Sowjetunion. Entgegen aller Putin-Verbote klären sie über den Krieg mit ihren Mitarbeitern aus Russland, Kasachstan, Lettland, Usbekistan und der Ukraine auf.

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Redakteurin Maria Kritchevski schildert im Fernsehen betroffen ihre Eindrücke, was in der deutschen Gesellschaft derzeit mit ihnen geschieht: „Man könnte es schon Hexenjagd nennen, was mit Russen und Belarussen hier passiert.“ Selbst ZDF-Moderator Christian Sievers mahnt in seiner Sendung vorsichtig: „Wenn sich Menschen nicht mehr trauen in Deutschland russisch zu sprechen, ist niemandem in der Ukraine geholfen.“ Klarer wäre: Das geht gar nicht. Aber so weit wagt sich kein Öffentlich-Rechtlicher hinaus.

Denn auf Verständigung und Dialog legen diese Aktivisten keinen Wert, sie brauchen immer einen Feind und eine ideologische Mission. Also werden jetzt russische Kinder oder Russischklassen wie sogenannte Klimaleugner gemobbt. Dabei sind bei uns in Deutschland inzwischen zwei Millionen russisch Sprechende zu Hause. Sie müssen jetzt mit einem Generalverdacht leben, der sonst gegenüber Einwanderern aus dem arabischen Raum und Afrika schnell verurteilt wird.

Es gibt nur noch gut und böse – schwarz und weiß!

Doch es kommt noch schlimmer: Wer zum Nachdenken neigt und auch die andere Seite zu verstehen versucht, gerät dieser Tage gnadenlos auf die Abschussliste. So wie es diversen Künstlern und Schauspielern mit ihrer Kritik an der Corona-Politik der Regierenden ergangen ist oder Wissenschaftlern und Publizisten, die Maßnahmen der Klimapolitik hinterfragen.

So stigmatisiert etwa Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk in einem Brief an den Chef des Fachbuchverlags C.H. Beck die Autorin Gabriele Krone-Schmalz, die aus seiner Sicht „mit ihrer Putin-Propaganda entscheidend dazu beitrug, dass in Deutschland bis heute Verwirrung herrscht bei der Einschätzung des diktatorischen Regimes von Putin“. Krone-Schmalz zähle wie „Schröder, Gysi, Wagenknecht, Platzeck, von Donyani (Dohnanyi d. Red.), Schwesig usw. zu den geistigen Brandstiftern.“ Bücher und Brandstifter sowie eine offensichtliche Verurteilungsliste von SPD- und Linken-Politikern – weniger Hass geht dieser Tage wohl nicht.

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Damit nicht genug: Kowalczuk forderte Verleger Beck auf, „sämtliche Gewinne aus den Büchern von Frau Krone-Schmalz“ den flüchtenden Menschen aus der Ukraine zu spenden. Was war passiert? Die langjährige und erfahrene Moskau-Korrespondentin des ARD-Weltspiegels und Grimme-Preisträgerin hatte es gewagt, als Autorin und Expertin zu beschreiben, dass Putin in seiner Anfangszeit mit Europa zusammenarbeiten wollte und der Westen ihm im Laufe der Jahre die kalte Schulter zeigte.

So etwas geht aus heutiger Sicht so mancher Sittenwächter gar nicht. Die Welt wird nur noch in schwarz und weiß, gut und böse eingeteilt. Zwischentöne und differenzierte Ansichten sind nicht mehr erlaubt. Gabriele Krone-Schmalz musste derweil öffentlich wie so manch anderer Putin-Experte eingestehen: „Ich habe mich geirrt.“ Den Westen trifft natürlich keine Mitschuld. Mehr noch: Jonathan Beck versicherte dem Briefschreiber, dass er selbstverständlich Geld spende. Außerdem werde sein Verlag die Bestseller seiner Autorin nicht mehr nachdrucken. Sie werden jetzt wohl wie in der DDR heimlich von Haus zu Haus weitergereicht, um sich über die Vorwürfe zu informieren.

Die Bürger werden von der Politik für ihr Handeln nicht gefragt

Noch viel entscheidender für den Zusammenhalt einer Gesellschaft ist die Frage: Wie gehen die Regierenden in Deutschland und Europa mit ihren Bürgern um?
CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen zum Beispiel will wie der Regierungschef Großbritanniens Putins Öl- und Gasgeschäft „finanziell austrocknen“, weil täglich annähernd eine Milliarde in seine Kriegskasse flösse. Das heißt, Deutschland und Europa sollen ganz schnell kein Gas und Öl mehr aus Russland abnehmen. Der mehrfach als Kandidat für den CDU-Chef gescheiterte Röttgen fordert: „Wir müssen Russlands Gas- und Ölgeschäft jetzt stoppen!“

Allerdings bezieht Deutschland inzwischen 55 Prozent seines Gases aus Russland, 35 Prozent des Öls und 50 Prozent der Steinkohle. Finnland, das Baltikum, Ungarn sowie Balkanstaaten sind fast zu 100 Prozent und Bulgarien zu rund 80 Prozent von russischem Gas abhängig. Obendrein leeren sich die deutschen Gasspeicher rapide.

Ein vom fleißigen Steuerzahler alimentierter Politiker wie Röttgen kann dies wohlfeil fordern. Mit seinem üppigen Einkommen sind ja exorbitante Energiepreise kein Problem. Doch solche unbedachten Forderungen bringen den Zusammenhalt in Europa in Gefahr. Denn woher bekommen Finnland, die Balten, der Balkan, Ungarn und Deutschland ihr Gas? Vor allem aber sehr, sehr teuer bezahlen müssen die Folgen die hart arbeitenden Menschen mit immer höheren Energie- und Verbraucherpreisen sowie dem Verlust von Arbeitsplätzen. Fragt die Politik ihre Bürger, ob sie diesen riskanten Kurs, der erheblich ihre Existenz, genauso wie Sozialsysteme und Wirtschaft bedrohen könnte, mittragen möchten? Also voll ins persönliche Risiko gehen gegen den Machthaber Putin?

Jedenfalls handelt die Politik, ohne ihre Bürger im Detail danach zu fragen. Sicher wollen alle ein schnelles Kriegsende und vor allem Frieden. Aber die Frage bleibt doch immer wie und mit welchen Mitteln?

Wirtschaftskorrespondenten an den Börsenplätzen wagen es schon, von einem Wirtschaftskrieg zu sprechen, der die Folge in der harten Auseinandersetzung des Westens mit dem Aggressor Russland wäre. Sie sagen bereits einen Ölpreis von 200 Dollar pro Barrel – also mehr als das Doppelte für bislang übliche Marktpreise – voraus. Russland droht dagegen, selbst den Gashahn abzudrehen. Wollen die EU-Bürger das?

Obendrein flattern dieser Tage in viele deutsche Haushalte Briefe und Mails mit drastischen Preiserhöhungen von Strom, Gas und Öl. Bis zu 100 Prozent Aufschlag bei Gas sind dabei keine Seltenheit. Laut Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BEDW) stieg der Gaspreis für Haushalte in Mehrfamilienhäusern zum Jahresbeginn 2022 um 83 Prozent an, von 6,47 Cent/kWh auf durchschnittlich 11,84 Cent/kWh. Zunächst sind diese Preisexplosionen das Ergebnis der von Bundesregierung und Ländern beschlossenen jährlichen Energiepreiserhöhungen fürs Klima. Doch diese Kostensteigerungen kommen für Kunden vorerst nur wie ein laues Lüftchen daher. Den Sturm eines Wirtschaftskrieges und seine Auswirkungen für die Gesellschaft wagt kaum ein Experte detailliert zu beschreiben.

Hinzu kommt der energiepolitische Irrsinn für den Klimaschutz mit der diesjährigen Abschaltung aller Atommeiler und die schnelle Stilllegung aller Kohlekraftwerke „idealerweise“ bis 2030. Sicherheitspolitisch haben hier in erster Linie CDU, CSU, SPD und Grüne versagt und schon jetzt Milliardenschäden verursacht.

Wie zum Beispiel durch die schnelle Abschaltung des modernen Kohlekraftwerks mit Kraft-Wärme-Kopplung und Steinkohle aus Südafrika in Hamburg-Moorburg im Rausch des Klimawahns auf Druck der Grünen nach nur sechs Jahren Betrieb und Baukosten in Höhe von drei Milliarden Euro. Die Laufzeit war bis 2038 geplant. Eröffnet hat das Kraftwerk 2015 Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) – der regiert heute als Kanzler Deutschland.

Hier noch ein paar Beispiele für weitere dramatische Auswirkungen: Die bisherige Exportprognose von sechs Prozent Zuwachs in diesem Jahr sei in Deutschland nicht mehr zu halten, prognostiziert DIHK-Außenhandelschef Volker Treier. Eine neue Vorhersage macht er nicht. Bereits vor dem Krieg habe es weltweite Lieferprobleme und Engpässe gegeben, die jetzt verstärkt worden seien. Treier betont, dass rund 250.000 Vollzeitstellen in Deutschland direkt von Exporten nach Russland abhängen. Im vergangenen Jahr hätten sich die Ausfuhren dorthin auf einen Wert von 26,6 Milliarden Euro summiert.

Insgesamt rund 40.000 deutsche Betriebe – vor allem im Osten der Republik – hätten Geschäftsbeziehungen mit Russland, etwa 3.700 seien vor Ort mit Niederlassungen aktiv. Große Baumärkte wie OBI schließen ihre Filialen in Russland. Sportartikelhersteller Puma, Siemens Energy, DHL, Airbus, BMW oder Daimler Truck stoppen ihre Geschäfte. Das hat nicht nur Konsequenzen für die russische Bevölkerung, sondern auch für deutsche Arbeitsplätze.

Nicht nur die Preise für Öl, Kohle und Gas steigen in enorme Höhen, sondern auch die für Getreide. Russland und die Ukraine sind weltweite Großproduzenten von Weizen – siehe Grafik.

Inflation
Chinas Hamsterei treibt die Preise für Lebensmittel
Der Russland-Ukraine-Konflikt hat zu einem deutlichen Anstieg des Weizenpreises an der deutschen Börse geführt. Am ersten März 2022 lag der Preis für Weizen bei 351,25 Euro pro Tonne. Einen Tag vor dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine – dem 23. Februar 2022 – kostete eine Tonne Weizen noch rund 287 Euro. Lkw-Fahrer für Weizen aus der Ukraine gibt es nicht mehr, sie verteidigen jetzt ihr Land.

Angeblich sei „die Versorgung innerhalb der EU nicht gefährdet“, behauptet der grüne Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir dieser Tage. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer hingegen zeigt sich in großer Sorge: „Wir werden nicht verhungern, aber es kann ganz schnell dramatische Auswirkungen auf den Getreidepreis geben.“ Auch Landwirte teilen die grüne Regierungssicht nicht: „Uns brechen gerade 36 Millionen Tonnen Weizen aus der Ukraine weg“, warnt beispielsweise Olaf Kranen, Landwirt im nordsächsischen Gaunitz, in der Lokalpresse.

Mehr noch: Bei der Dezitonne Tierfutter aus Getreide schlagen deutsche Versorger von ländlichen Betrieben statt wie bisher bei Preiserhöhungen ein paar Cent inzwischen gut neun Euro drauf, also 90 Euro für die Tonne oder 900 Euro für zehn Tonnen Futter. Das reicht für mittlere Tierbetriebe gerade einmal ein paar Tage. Solche Preiserhöhungen hat es noch nie gegeben. Viele Landwirte gehen jetzt in die Knie. Betriebsschließungen machen bald die Runde.

Zwar ist Energie bereits zum Brotpreis des 21. Jahrhunderts geworden, doch der künftige Getreidemangel wird den Preis für unser täglich Brot wieder in neue Höhen treiben. Bezahlen müssen den der kleine Mann und die Familien und nicht die Politik.

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