Boris Palmer hat es zum dritten Mal in Folge geschafft, doch diesmal zum großen Ärger seiner eigenen Partei der Grünen. Tübingens kritischer und strittiger Geist gewann diesmal als unabhängiger Bewerber klar mit 52,4 Prozent der Stimmen seine Wiederwahl zum Oberbürgermeister. Palmer eroberte wieder im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit. Doch es war ungleich schwerer als die Jahre zuvor. Bei den Grünen ist der Freund einer klaren Aussprache längst in Ungnade gefallen.
Der Baden-Württemberger musste sich so erst erfolgreich gegen die Kandidatin aus seiner eigenen Partei Ulrike Baumgärtner (Grüne) durchsetzen. Sie erreichte lediglich 22 Prozent der Wählerstimmen und Sofie Geisel von der SPD erreichte nur 21,4 Prozent. Der anders wie auch bürgerlich denkende Palmer brachte Grün-Rot eine deftige Niederlage ein. Ideologie zahlt sich nicht aus. Unabhängigkeit vom linken Zeitgeist ist plötzlich Trumpf.
Inzwischen ist es sogar schon gefährlich, Palmer in eine liberale Partei einzuladen. Im Mai 2020 versuchte dies der Baden-Württemberger FDP-Landesvorsitzende Michael Theurer: „Bei uns in der FDP Baden-Württemberg ist Boris Palmer herzlich willkommen. Wir sind eine Heimat für kritische Köpfe. Wir halten das aus, wir kämpfen für Meinungsfreiheit.“ Dafür kassierte Theurer von seinem Parteichef Christian Lindner eine interne Abmahnung. Dabei hätte der heutigen Umfaller-FDP ein kritischer Geist gut zu Gesicht gestanden. Ergo: Linders FDP ist keine Heimat mehr für kritische Köpfe.
Wer abweicht oder nachdenkt, ist bei Linksgrün schnell „umstritten“
Das Gejammer bei linksgrünen Medien über Palmers Tübinger Wahlsieg vom Sonntag ist nun entsprechend groß. „Boris Palmer gilt gemeinhin als umstrittene Figur“, beklagt die Süddeutsche Zeitung, nicht nur in Bayern bekannt auch als Alpen-Prawda, und das gleich nach der Wiederwahl von Palmer. Warum wohl, ist auch klar: Palmer sagt, was er denkt, ist nah bei normalen Bürgern und mit gesunder Distanz zum grünen Mainstream. Er macht sich nicht gerne gemein mit ideologischen Vorgaben aus Parteizentralen. Der Sohn eines Obstbauern gibt sich bodenständig, bürgernah und unbequem.
Deshalb beklagt die Süddeutsche auch sofort: „Der Landesvorstand hätte Palmer vor einem halben Jahr am liebsten aus der Partei geworfen, weil er zahlreiche seiner Äußerungen, vor allem über Geflüchtete, für parteischädigend hielt. Jetzt kann sich kein Grüner mehr der Hoffnung hingeben, das unbequeme Mitglied werde einfach verschwinden, in den Ruhestand geschickt vom Tübinger Wähler.“ Deswegen wird er vor allem als „Risiko“ gesehen.
Leider nur sind Querdenker heute vom linken Mainstream zum Schutz der Regierenden in Bund und Ländern stigmatisiert worden. Dabei war querdenken in den neunziger Jahren eine regelrechte Auszeichnung für Politiker, die verkrustete Strukturen und Funktionärsdenken in ihren Parteien aufbrachen – wie zum Beispiel Querdenker Peter Glotz in der SPD. Der frühere bayerische Bundestagsabgeordnete setzte sich als Gründungsrektor der Universität Erfurt für Studiengebühren und die Bildung Elite-Hochschulen ein. Für Sozis war das seinerzeit ein rotes Tuch. Ähnlich ergeht es Boris Palmer heute in seiner grünen Partei.
Zum dritten Mal schon im ersten Wahlgang erfolgreich
Palmers Durchmarsch mit absoluter Mehrheit schon im ersten Wahlgang hat seine Gegner vor allem in seiner Noch-Partei, den Grünen, überrascht und tief getroffen. Denn der umtriebige und freisinnige Oberbürgermeister trat wegen vieler Querelen um sein Denken und seine Person bei den Grünen konsequent als Unabhängiger an. Schon als grüner Bewerber holte Palmer bei früheren Wahlen auf Anhieb absolute Mehrheiten.
Meist jedoch sind Kommunalwahlen vielen Bürgern nicht so wichtig, obwohl sie eigentlich ihr Leben und Arbeiten in der Region bestimmen, doch in Tübingen mobilisierte Palmer offensichtlich seine Wähler. Verglichen mit der vorangegangenen OB-Wahl (61,7 Prozent) im Jahr 2014 hat er zwar Stimmen verloren, aber es gab vor acht Jahren auch keinen Gegenkandidaten aus den eigenen Reihen. Zudem lag die Wahlbeteiligung am Sonntag nach Angaben der Stadt bei stattlichen 62,6 Prozent und damit deutlich höher als bei den vergangenen OB-Entscheiden in Tübingen. 2014 hatten lediglich 55 Prozent abgestimmt, 2006 nur knapp über 50.
Mit klarer Kante grünem Zeitgeist widersprochen
Seit Palmer Tübingen als OB regiert, hat er sich für die grüne Parteielite zum umstrittensten Kommunalpolitiker in ihren Reihen entwickelt, weil er die klare Kante liebt, und oft sagt, was Bürger denken. Mit Tempo 30 ist er zwar gegen die Wand gefahren, aber er sprach sich 2013 schon mal dafür aus, gegen auffällige Alkoholtrinker auf den Straßen Aufenthaltsverbote aussprechen zu können. Heute unvorstellbar, aber 2010 befürwortete Palmer als Aufsichtsratsvorsitzender die Beteiligung seiner Stadtwerke Tübingen an einem geplanten Steinkohlekraftwerk in Brunsbüttel.
Palmer befördert auch Diskussionen. Er kritisierte die hysterische Regierungspolitik und ihre Anti-Covid-Strategie als er im Sat.1-Frühstücksfernsehen provokant fragte: „Ich sag’s Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.“ Er musste im April 2020 dies dann zwar wie politisch üblich relativieren: „Niemals würde ich älteren oder kranken Menschen das Recht zu leben absprechen.“
Der Schwabe ist schwer auszurechnen, eckt rechts wie links und mittendrin an, steckt dabei aber auch ein und macht weiter.
Auch an der dilettantischen Regierungs- und Baupolitik Berlins – Stichwort „Hauptstadtfluchhafen“ BER – ließ er kein gutes Haar, obwohl seine Grünen dort seit 2016 mitregieren.
Palmers Asylkritik machte ihn zum Ausgegrenzten bei den Grünen
Zum Bruch mit den Grünen kam es jedoch mit seinen realistischen Forderungen zur Begrenzung von CDU-Kanzlerin Angela Merkels grenzenloser Asyleinwanderung. Da schwenkte der grüne OB auf die frühere und heute aufgegebene harte CSU-Linie ein. Palmer forderte „Realismus in der Asyldebatte“ und beklagte schon 2015 „überlastete Aufnahmekapazitäten“. Er plädierte für Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern und die Bestimmung von mehr sicheren Herkunftsländern, die das Asylrecht dann ausschließen.
Palmer fragte zum Ärger der Grünen öffentlich, „ob Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen, die aus purer Not zu uns kommen, ob die den gleichen Grund haben, bei uns Unterschlupf zu finden, wie Menschen, die vor Krieg fliehen. Und ich glaube, die Antwort ist nein.“
Außerdem warnte Palmer im November 2017 vor den Folgen ungezügelter Einwanderung, entgegen der Pro-Asyl-Propaganda regierungsnaher Medien: „Die Menschen, die während der Flüchtlingskrise zu uns gekommen sind, haben eine andere Einstellung zu Frauenrechten, religiöser Toleranz und Umweltschutz. Wenn eine Million Menschen in einer so kurzen Zeit kommen, muss man sich plötzlich wieder mit Vorstellungen auseinandersetzen, die man für überwunden glaubte. Das kann eine Gesellschaft zurückwerfen.“
Zwischendurch auf der Straße mutmaßte Palmer im Mai 2018 im Fehlverhalten eines Radfahrers mit anderer Hautfarbe, es müsse sich um einen Asylsuchenden handeln. Das Schwäbische Tagblatt und grüne Funktionäre stigmatisierten seine Aussagen sofort als rassistisch. Die Liste von Palmers Anekdoten zu seinen Erlebnissen und Erkenntnissen von Deutschlands Migranten ist jedoch noch viel länger.
Im November 2018 kritisierte Palmer wie nur wenige andere den UN-Migrationspakt, weil dieser Einwanderung und Asyl nicht klar unterscheide. Es sei ein Fehler gewesen, das Thema öffentlich ein Jahr lang zu ignorieren, also vor dem UN-Beschluss.
Am 15. November 2021 beantragte der Landesvorstand der Grünen Baden-Württemberg offiziell den Parteiausschluss von Boris Palmer. Das Landesschiedsgericht schlug im April dieses Jahres einen Kompromiss vor, den beide Seiten akzeptierten. Palmer lässt seine Parteimitgliedschaft bis Ende des Jahres 2023 ruhen.
Umso mehr können sich seine grünen Kritiker heute nach dem Wahlerfolg gegen Grün und Rot ärgern. Die Kandidaten der etablierten Parteien von SPD und Grünen hat Palmer mit seinem Alleinsieg düpiert. Für seinen Wahlkampf hatte er sich sogar ein neues Format ausgedacht. Er ermunterte die Bürger zu Gartenpartys unter dem Motto „Grill den OB“. Sobald sich mindestens 15 Leute zu einer Grillparty trafen, kam er vorbei und brachte einen Kasten Craft-Beer einer Tübinger Mikrobrauerei mit. So stellte sich Boris Palmer bei 30 Partys den Fragen seiner Wähler. Wurst und Bier statt veganes Müsli führt also doch noch zum Erfolg.