Tichys Einblick
CDU/CSU-Bundestagsfraktion

Merkels letzte Stunde als Kanzlerin hat noch lange nicht geschlagen

Keine Panik – die Angst bleibt. Auf ihrer vorletzten Sitzung vor der Bundestagswahl hören die virtuell und leibhaftig versammelten Unionsabgeordneten von Angela Merkel neue Warnungen und Mahnungen. Von Amtsmüdigkeit ist da nicht viel zu vernehmen.

IMAGO / Emmanuele Contini

Die Bundeskanzlerin setzt weiter auf den Angstmodus. Sie kann nicht aufhören, in der stark abflauenden Corona-Pandemie weiter zu Vorsicht trotz minimalster Infektionszahlen zu mahnen. Deutschlands politisch als höchst wichtig festgelegter Inzidenz-Wert sinkt bald unter acht und liegt theoretisch angesichts von viel mehr Tests als im Vorjahr schon fast bei null. In der Hauptstadt Berlin liegt er schon bei 7 und in der Großstadt Leipzig schon unter 5. Doch schon diesen Montag warnt Angela Merkel vor der Fraktionssitzung am Dienstag in Berlin: „Wir wissen auch, wie fragil dieser Fortschritt noch ist.“ Die Impfquote steige zwar, aber man nähere sich noch nicht einer Herdenimmunität. Mehr noch: „Wir sind anfällig für neue Varianten.“

Vorsicht: Delta, Delta oder die indische Variante! Über den chinesischen Ursprungsvirus mag die Kanzlerin ja wegen drohender wirtschaftlicher Konsequenzen nicht sprechen, allen Geheimdienst-Berichten aus Joe Bidens USA zum Trotz. Beim China-Virus kann sie schweigen wie ein Grab. Ebenso schweigsam zeigt sich die breite Mehrheit der CDU/CSU-Abgeordneten. Kaum einer wagt der Kanzlerin mit Restlaufzeit zu widersprechen. Brav wie die Lemminge folgen sie dem unerbittlich harten Kurs, da können noch so viele Fußballfans im Stadion von Kopenhagen locker und ohne Maske feiern trotz höherer Inzidenz von 30. Die Koalition der Willigen von CDU und CSU, aber auch von SPD und Grünen stimmten erst kürzlich noch vor der Sommerpause der Verlängerung einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ zu. Bei der Union haben nur 13 Abgeordnete, einer der SPD und von den Grünen sogar keiner dagegen gestimmt, wie man hier nachlesen kann. Wider besseres Wissen von Experten, wider die Kritik der Opposition von FDP, AfD und Linken. Nach dem scheinbaren Wahlerfolg der CDU in Sachsen-Anhalt hoffen viele Abgeordnete der Union jetzt, dass ihre Arbeitsplätze weitgehend erhalten bleiben und eine dramatische Wahlniederlage ausbleibt.

So verwundert die scheinbare Harmonie bei der vorletzten, virtuell wie leibhaftig (hybrid) stattfindenden Unionsfraktionssitzung am späten Dienstagnachmittag nicht. Denn, wer kritisiert, wird schnell als Gefährder der Bundestagswahl angefeindet.

Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus findet im Plenarsaal nach der Eröffnung der vorletzten Fraktionssitzung: „Es ist wie die letzte Schulstunde vor den Ferien.“ Damit keine Zweifel aufkommen, meint Brinkhaus, die Arbeit von CDU und CSU am Wahlprogramm war „ein sehr, sehr guter Prozess“ und natürlich sehr „harmonisch“. So viel Eigenlob muss sein. Dazu noch Verständnis für die Zeit der Pandemie: „Jeder Bürger war belastet.“ Diese Legislaturperiode war für die CDU/CSU-Fraktion eine der schwersten, aber sie wäre der Hort der Stabilität gewesen. Mit diesem Stolz könne man nun in den Wahlkampf gehen.

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt glänzt danach kurz mit Allgemeinplätzen: „Politik ist eine wiederkehrende Achterbahnfahrt. Alles was uns gefordert hat, hat uns ein Stück nähergebracht.“ Es fehlt nur noch die TV-Promi-Bemerkung: Die Reise ist noch nicht zu Ende. Die Fraktion sei ein Machtzentrum, habe Dobrindt betont, berichten Teilnehmer.

Die Faktion war jedoch eher ein williges Werkzeug von Kanzlerin Merkel, das wäre die ehrliche Beschreibung.

Deutschland als zweitgrößter Pandemie-Geldgeber für die Welt

Kanzlerin Merkel präsentiert sich virtuell aus ihrem Kanzleramtsbüro. Im Hintergrund stehen große Schachfiguren, berichten Teilnehmer. Jetzt wolle sie uns wohl wieder aufs Feld schicken.

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Das nun nicht, aber diesmal ausnahmsweise kurz wie immer erst kleine Hoffnungen nähren, um danach anhaltende Corona-Gefahren zu beschwören. Die Dinge entwickelten sich im Augenblick erfreulich. Aber die Impfstoffbeschaffung für die Welt werde „ein Riesenthema“. Merkel wiederholt ihr neues Mantra vor den Abgeordneten: „Die Pandemie ist nicht vorbei, bis nicht alle Menschen Zugang zu Impfstoffen haben.“ Deutschland sei zweitgrößter Geldgeber beim Pandemiebekämpfungsfonds für die Welt, auch bei den Impfstoffen sei man der „zweitgrößte Geber“. Damit nicht genug: Gleichzeitig habe sich die deutsche Regierung entschieden, „bis Jahresende 30 Millionen Dosen noch mal abzugeben als reale Dosen“ für die Welt, berichtet Merkel ihren Zuhörern. 

Dabei gebe es selbst in Deutschland immer noch Riesenprobleme mit der Impfstoffversorgung, finden kritische Unionsabgeordnete während Merkels Worten. Die Kanzlerin zeige sich eben gerne gönnerhaft auf Kosten ihres eigenen Landes.

In der Geopolitik sei aus Sicht der Amerikaner beim G-7-Gipfel „China ein sehr großer Faktor“, hätte Merkel erklärt. Von einer chinesischen Gefahr redet sie wohlweislich nicht, nur von großer Herausforderung. Um gleich danach herauszustellen: Gut sei auch die Rückkehr zur WHO. Die US-Regierung von Präsident Donald Trump hatte die WHO noch unter der Fuchtel von China gesehen. Also ab jetzt gilt wieder für Merkel und Co: Augen, Ohren und Mund feste zu – wie die berühmten drei asiatischen Affen.

Kanzlerkandidat Laschet setzt sich ein Wahlziel von 33 Prozent

CDU-Chef Armin Laschet freut sich von der Bundesratsbank aus nach Merkels Kurzbeitrag, dass die Union „in so guter Verfassung“ die letzten 97 Tage bis zur Bundestagswahl gehen könne, registrieren Abgeordnete. Zumindest erwähnt Laschet zu Beginn anders als Merkel indirekt Chinas Verantwortung bei Corona, weil im chinesischen Wuhan „irgendetwas schieflief“. Laschet meint: „Wir haben eine Pandemie, bei der sich die geopolitischen Gewichte verschieben.“ Denn China habe über Lieferungen von Masken und Impfstoffen für Afrika bestimmt. Das müsse sich ändern. Aber das war‘s dann schon.

Im Nachhall verliert er sich noch über die Weltfinanzkrise, Syrienkrieg und Klimaschutz. Die Grünen hätten bei Letzterem keinen Grund zu moralischer Überheblichkeit. Schließlich wären sie seit 2005 nicht mehr an der Macht. Offensichtlich sei jetzt die Union die grüne Partei in der Regierung, vernehmen Abgeordnete aus Laschets Worten. „Jedes Gramm CO2, das seit 2005 reduziert wird, ist unser eingespartes CO2“, bekunde der durchgrünte CDU-Chef stolz.

Zum Schluss setzt Kanzlerkandidat Laschet noch ein sehr hohes Wahlziel für seine schwächelnde Union: „Wir müssen 32 bis 33 Prozent kriegen, dafür müssen wir noch ein bisschen drauflegen.“ Damit keiner gegen die Union regieren könne.

Kurz, die Bundestagswahl ist für die Union in der gegenwärtigen Stimmungslage nur ein Klacks.

Die vorletzte Sitzung der Unionsfraktion ist passe. Wer auf ein normales Leben in naher Zeit hofft, wird von Merkel schnell enttäuscht. Denn wie gesagt: „Die Pandemie ist erst besiegt, wenn alle Menschen auf der Welt geimpft sind.“ So hat die Kanzlerin in ihrer Eigenheit eine Art Zero-Covid-Strategie beschlossen. Oder anders gesagt: Erst wird Europa durchgeimpft und dann die ganze Welt. Das kann dauern. Setzt die Politik so auf eine Dauerpandemie?

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Dennoch hat Kanzlerin Merkel ihr Volk in der Corona-Krise voll im Griff. Es scheint ihr offensichtlich zu gefallen, wie alle artig folgen, wenn man ihnen nur genug Furcht einjagt. Literarisch Bewanderte greifen hier gerne zu Allegorien. Sie sehen es mit schwarzem Humor, wenn sie in Merkel gar eine neue Herrin der Ringe erkennen: „Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden.“ (J.R.R. Tolkien) In jedem Fall bleibt sie die Herrin der Masken noch bis zum Jahresende.
Merkel will Kohl in der Amtszeit gerne überholen

Schließlich hat die Regierungschefin wohl noch mehr vor. Sie möchte gerne als der am längsten amtierende Kanzler in die Geschichtsbücher eingehen. Noch länger im Amt als Helmut Kohl – das wäre noch etwas für Angela Merkel. Der „Kanzler der Deutschen Einheit“ brachte es als Regierungschef vom 1. Oktober 1982 bis 26. Oktober 1998 auf genau 5.869 Tage. Kanzlerin Merkel müsste, um ihn einzuholen bis zum 17. Dezember 2021 regieren.

Dieses Ziel kann sie nach der Bundestagswahl am 26. September durchaus erreichen, wenn sich die Bildung einer neuen Regierung durch Sondierungen und Koalitionsverhandlungen – wovon viele Politiker ausgehen – ziemlich lange hinzieht. Es wird also dauern, bis die aussichtsreichsten Kandidaten wie Armin Laschet (CDU) oder Annalena Baerbock (Grüne) die Kanzlerschaft übernehmen können. So amtiert Merkel wohl noch bis zum Jahresende munter weiter – mindestens. Kritische Zungen in der Fraktion verbreiten bereits den Hinweis, Merkel würde vorsorglich ihre Neujahrsansprache vorbereiten.

Schließlich teilte sie den Bürgern in ihrer bisher letzten Ansprache am 31. Dezember 2020 noch „etwas Persönliches“ mit: „In neun Monaten ist Bundestagswahl, zu der ich ja nicht wieder antreten werde. Dies ist deshalb heute aller Voraussicht nach das letzte Mal, dass ich mich als Bundeskanzlerin mit einer Neujahrsansprache an Sie wenden darf.“ So viel Merkelsche Voraussicht kann bedeuten, dass sie als Kanzlerin noch bis in den Januar hinein Deutschland regiert. Also wieder zum Höhepunkt einer Virus-Saison.

Sie kann so Corona-Maßnahmen wieder verschärfen, weil RKI und SPD-Gesundheitspaniker Karl Lauterbach die vierte Welle beschwören. Dank epidemischer Notlage, die nach der Bundestagswahl ohne Weiteres verlängert werden könnte, würde die noch amtierende Kanzlerin sicher ohne zu Zögern einen weiteren Lockdown wie Ende 2020 verhängen. Was für Aussichten.

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