An der Spitzenkandidatin Nicola Beer hat es nicht gelegen. Doch statt Entsetzen: Applaus, Applaus, Applaus im Hans-Dietrich Genscher-Haus für blamable 5,4 Prozent bei der EU-Wahl und ein mageres Ergebnis mit Verlusten in Bremen (6%): Es wirkt wie Jubel, damit man nicht heulen muss. Denn der große Vorsitzende Christian Lindner hatte doch viel höhere Ziele nach dem Absturz 2013/14 ausgegeben: „Wir wollen unser Ergebnis vom letzten Mal verdreifachen!“, verkündete der Parteichef am 26. Januar beim Presse-Empfang in seiner Zentrale selbstbewusst. Noch am Presseabend vor dem jüngsten Parteitag am 25. April glaubte Lindner, dass seine Truppe das „beste Europaergebnis für die FDP“ erreichen könne. Wir rechnen zusammen: Drei mal 3,4 Prozent von 2014 machte 2019 dann 10,2. Heraus kam nicht einmal eine Verdopplung, sondern ein schlechtes Abschneiden bei der EU-Wahl. Bei vier Wahlen zuvor war die FDP besser.
Was sagt der Vorsitzende nach der Klatsche? „Wir sind zufrieden, wir sind ein kleiner Wahlgewinner,“ redet Lindner das dürftige Ergebnis schön. Obwohl die Europapartei FDP nach Prozenten fast nur halb so viele Wähler wie bei der Bundestagswahl ins Wahllokal lockte.
Das beste FDP-Ergebnis holte somit immer noch Parteichef Guido Westerwelle 2009 mit 11 Prozent. Doch dessen liberal-konservativen Kurs haben Lindner und Co. in den letzten Jahren verbannt. Westerwelles Leute stehen heute innerhalb der FDP auf dem Index. Lindners FDP treibt lieber im Strom der etablierten Parteien mit, anstatt wie früher anzuecken und aufzuwecken. Das Plakat der Reformpartei, auf dem ein gelber Fisch mit blauen Punkten gegen den Strom roter Fische mit grünen und schwarzen Punkten schwamm mit dem Slogan „Einer muss es ja tun“, hat man ganz hinten ins Archiv geschoben.
An wem hat es also gelegen? Sicher auch an Parteichef Christian Lindner, dessen Aufwind mit guten Ergebnissen jetzt wohl verweht. Da hilft auch kein stets verbreitetes Selbstlob der Parteispitze, die FDP stehe seit zwei Jahren so stabil wie nie zuvor in ihrer Geschichte – mit acht bis neun Prozent. Angesichts dieser zerstrittenen kleinen Großen Koalition wären aber für eine kämpferische bürgerliche Opposition weit mehr als zehn Prozent drin. Und es kommen im Herbst noch schwere Landtagswahlen für die FDP in Brandenburg, Thüringen und Sachsen.
Freidemokratischer Intrigenstadel
Symptomatisch für den Zustand der FDP ist der Umgang mit ihrer Spitzenkandidatin zur EU-Wahl Nicola Beer. Die Parteiführung wird intern der 49-jährigen Hessin die Schuld für die Wahlschlappe zuschieben. Schon zu Beginn des Wahljahres im Januar scheiterte eine innerparteiliche Intrige gegen Beer wegen ihrer vermeintlichen Nähe zu Ungarn und Regierungschef Orban vor ihrer Nominierung für die EU-Wahl nur knapp. Aber wie immer blieb etwas hängen. Beers Mann, Jürgen Illing, ist Honorarkonsul von Ungarn in Frankfurt am Main. Er engagiert sich für das Deutsch-Ungarische Jugendwerk. Ende September heirateten beide, auch aus Liebe zu Ungarn, in Budapest. Ungarns Regierung betrachten sie kritisch, aber nicht feindlich wie der linke politische Mainstream. Schon das war für links tickende Liberale in Tateinheit mit Journalisten zu viel.
Seinem Parlamentsgeschäftsführer Marco Buschmann ließ der Parteichef freie Hand. Denn Lindners Büchsenspanner war es, berichten Bundestagsabgeordnete der FDP, der Anfang April vor der NRW-Landesgruppe im Bundestag verbreitete, die Idee der Verknüpfung von Kandidatur und neuem Amt stamme nicht von Lindner. Das erzeugte schnell schlechte Stimmung im NRW-Landesverband. Hängen blieb, eine machtgeile Frau wollte sich ihre Spitzenkandidatur und damit auch den Verlust des Generalsekretärs mit dem Posten der Vizeparteichefin versilbern lassen.
Jedoch als Lindner vor gut einem Jahr mit Beer über die EU-Spitzenkandidatur sprach, hat nicht nur sie, sondern vor allem Lindner die Kopplung von Kandidatur und Parteivizeamt ins Spiel gebracht und unterstützt. Lindner mochte auf eine direkte Anfrage dazu nichts kommentieren, bemerkte die Süddeutsche Zeitung am 7. Mai. Aus weiser Voraussicht nannte Nicola Beer bei ihrer Bewerbung vor den Delegierten auf dem Berliner Parteitag am 26. April extra den Urheber der Idee, Spitzenkandidatur und Parteivize zu verbinden: „Das Copyright dieser Verknüpfung steht mir nämlich gar nicht zu, das stammt von Christian Lindner.“ Dieses Lavieren und Abtauchen sowie die fehlende Unterstützung für seine EU-Spitzenkandidatin, bringt Lindner inzwischen parteiintern den Spitznamen „Häuptling gespaltene Zunge“ ein.
Im Gegenteil. Mit der rosaroten Brille wollte die Parteiführung den Blick nur auf „Europas Chancen nutzen“ richten. Soviel Positivismus erfüllte eben potentielle Sympathisanten der FDP nicht. EU-Europas Probleme gehören zum deutschen Alltag und deutlich angesprochen. Dazu muss man auch ein Ohr für die Bürger und ihre Witze haben: „Europa ist schön, wenn Deutschland zahlt!“ oder „In Brüssel wird’s erdacht, in Deutschland wird’s gemacht und in Griechenland wird gelacht!“
Hausverbot für Zweifler
Lieber kanzelt Lindners Chefideologe Buschmann „Zweifler aus der Meckerecke“ gerne schnell ab. Eine rosa Brille sorgt aus seiner Sicht für eine angenehmere Tönung. Damit blickt der Bürger leichter über den alltäglichen Irrsinn mit Diesel- und Kaffeebecherverboten, CO2-Steuer, Energiechaos, Luftgrenzwerte oder anhaltende Asyleinwanderung ins Sozialsystem hinweg. Um diese Themen kümmert sich ohnehin hauptsächlich der Staatsfeind Nummer eins – die AfD. Also thematisch bloß keine Nähe zu den Schmuddelkindern der Politik herstellen. Denn: „Rechts der CDU ist nichts zu holen bei uns,“ hat auch der FDP-Chef verkündet.
Daher sollen Zweifler bei der heutigen FDP am liebsten Hausverbot bekommen. Nicht ohne Grund startete sie beim Dreikönigstreffen in Stuttgart mit dem Slogan ins Wahljahr: „Glauben wir nicht an Zweifel, Chancen nutzen.“
Hallo Freidemokraten! Hätten Millionen mutige Bürger – es waren wie heute nur eine Minderheit – nicht an den Zuständen und Systemen im Sozialismus gezweifelt, würde der Eiserne Vorhang immer noch hängen und die Berliner Mauer heute noch stehen. Egon Krenz hätte seinen Staatsrats- und Parteivorsitz an „SED-Reformer“ Gregor Gysi übergegeben. Doch das haben demonstrierende Zweifler auf der Straße verhindert.
Zweifel gehören zum gesunden Menschenverstand und nicht unterdrückt. DDR-Maler Reinhard Hevicke entwarf dazu 1980 ein grandioses Bild, dass zum großen Unwillen der SED-Meinungsbeherrschenden zwei Jahre später irgendwie in die Säle der IX. Kunstausstellung in Dresden gelangte. Auf 100 mal 140 Zentimeter entwarf Hevicke ein Abbild einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft – er nannte es: „Die Rosa- und die Schwarz-Bebrillten“.
Wohl auch deswegen wurden Bilder des künstlerischen Zweiflers später aus öffentlichen Gebäuden wie Kunstausstellungen verbannt und Hevicke in der DDR auch noch verfolgt. Rosa Brillen verfälschen nur die Sicht auf das real existierende Deutschland, das sollten freiheitlich denkende Menschen eigentlich als erste erkennen.
Liberale Zweifler sollten die Ziele der Umweltlobby und ihres industriellen Komplexes hinterfragen. Macht es Sinn, dass Europa Billionen Euro aufwendet um 10 Prozent CO2 zusätzlich einzusparen. Denn diese Reduktion füllt China mit seinem Mehrausstoß in vier Wochen wieder auf. Ist es vielleicht sinnvoller mit dem Klimawandel zu leben und Milliarden lieber in neue Technologien zu investieren, die ebenso die Umwelt schonen, aber nicht um den Preis eines diktierten und ineffizienten Einsparzieles. Doch wer so denkt und zweifelt, bekommt die volle Breitseite des linken Medienmainstreams ab. Davor haben Lindners Truppen inzwischen eine Heiden-Angst
Weiter „über Gräber vorwärts!“
Stattdessen gilt bei der FDP lieber die Devise aus – nur nicht Zurückblicken, schon gar nicht deutsche Zustände allzu viel kritisieren, lieber Chancen sehen. Ja, die FDP-Führung widmet sich vorerst ganz dem Nachkriegsmotto des Dresdner Liberaldemokraten Wilhelm Külz: „Über Gräber vorwärts!“
Nicht die FDP, sondern Kabarettist Dieter Nuhr hielt in seinem Jahresrückblick 2018 der deutschen Regierungspolitik den Spiegel vor bei Dieselwahn, Grenzwerten und Kohleausstieg. Nuhr machte klassische Oppositionsarbeit: „Wir vernichten ja gerade alles, was unseren Sozialstaat irgendwie bezahlen könnte.“ Chemieindustrie, Landwirtschaft, Energiewirtschaft und „jetzt sind wir gerade dabei, unsere Autoindustrie zu vernichten“. In Deutschland werde Zukunft verhindert, hier regiere Irrationalität.
Wo bleibt die FDP heute, wenn den Bürgern durch Verbote ständig ein neuer Lebensalltag aufgezwungen wird? Recycelbare Kaffeebecher aus Pappe werden demnächst bestimmt auch mit den Freidemokraten abgeschafft. Widerstand? Aus FDP-Sicht wohl zwecklos.
Nur wehe ein Wirtschafts- und Finanzkundiger führte die Union in der Nach-Merkel-Ära, dann beginnt bei den Liberalen wieder das große Zittern vor der Fünf-Prozent-Hürde. Die links- und grüngerichteten Medien werden sie, trotz aller Anbiederung, nicht retten – im Gegenteil.
Bleibt derweil nur die FDP-Hoffnung, Merkels angeschlagener Blitzableiter, CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer möge durchhalten. Denn auch die CDU klatscht die Wirklichkeit weg. Man ist ja noch stärkste Kraft – trotz dramatisch hoher Verluste.