Tichys Einblick
Corona-Einschränkungen

Wie die Union allmählich die Corona-Kurve kratzt

CDU und CSU sind im Bund machtlos, aber in den Ländern regieren noch ein paar Fürsten. Wahlen stehen vor der Tür, deswegen geben immer mehr Regierungschefs jetzt ihren harten Pandemie-Kurs auf und biedern sich bei erzürnten Bürgern an.

Friedrich Merz, CDU-Bundesvorsitzender, mit CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt und dem bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder bei der Winterklausur "Aufbruch22" der CSU im Bundestag am 3.2.2022

IMAGO / Chris Emil Janßen

Immer mehr Bürger ’spazieren‘ auf Deutschlands Straßen gegen Freiheitseinschränkungen, Impfpflicht und überzogene Corona-Maßnahmen. Der Protest zeigt offensichtlich Wirkung – vor allem Ministerpräsidenten der Union fallen reihenweise um, seit CDU und CSU ihre Regierungsmacht im Bund verloren haben. Plötzlich wollen sie ihre strengen Regeln lockern, obwohl die öffentlich-rechtlichen Medien weiter mit ihren Inzidenzgrafiken täglich neue „Infektionsrekorde“, also positiv Getestete, im Zweihunderttausender-Bereich verkünden. Vor gut einem Jahr waren diese Zahlen der politische Grund für Lockdowns aller Art.

Doch gleich drei CDU-geführte Länder stehen vor riskanten Wahlen und deren Ministerpräsidenten auf der Kippe – wie im Saarland am 27. März, in Schleswig-Holstein am 8. Mai und in Nordrhein-Westfalen am 15. Mai. Aber auch in Bayern und Hessen, wo die Union noch Regierungschefs stellt, wird schon im Herbst 2023 gewählt.

Obendrein wird der deutsche, hysterische Corona-Alleingang der Härte immer mehr Bürgern offensichtlich. Schließlich setzen auch noch unsere europäischen Nachbarn mit ihrer massiven Öffnungspolitik das deutsche Corona-Regiment unter Druck.

So hat wohl Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), früher Muttis Schärfster, wenn es um Freiheitseinschränkungen und Gängelung der Bürger in der Corona-Politik ging, über die vergangenen Feiertage der Geist der Weihnacht gestreift. Frieden und Freiheit sollen wieder in Deutschland und natürlich zuerst in Bayern einziehen.

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Erst hätte er am liebsten alle zu Hause wegen Corona eingesperrt, jetzt kann er gar nicht schnell genug an der Spitze der Öffnungsbewegung stehen – der Söder, Markus aus Nürnberg in Franken. Seit Januar setzt sich der Bayer mit Blick auf seine Landtagswahlen im kommenden Jahr immer mehr von der Ampelpolitik in Berlin und dem Corona-Regime seines Freistaatsnachbarn ab. Regierungschef Michael Kretschmer (CDU) glaubte, in Sachsen wie Söder mit der Stigmatisierung von Ungeimpften erfolgreich zu sein. Auch Kretschmer wollte so vom eigenen Politikversagen in der Corona-Krise ablenken, wie zum Beispiel dem einsamen sächsischen Lockdown: Kultur- und Freizeiteinrichtungen, Campingplätze, Ferienwohnungen, Pensionen, Hotels waren bis 15. Januar rund zwei Monate komplett und Gaststätten ab 20 Uhr geschlossen. So einen neuerlichen Lockdown hatte nicht einmal Söder in Bayern gewagt, obwohl die sogenannten Inzidenzwerte und Krankenhausauslastungen in beiden Ländern ähnlich waren.
Brot und Spiele, um das politische Versagen zu vergessen

Inzwischen hat der wendige Franke in Bayern längst die Kurve gekratzt. Bei Lockerungen von Corona-Beschränkungen macht Bayerns Regierungschef plötzlich Druck. CSU-Chef Söder fordert in der Bild-Zeitung blitzartig „konsequente Öffnungsschritte“ wie diese: „Mit einer FFP2-Maske können wir auf die 2G-Regel im Handel verzichten. Man hält sich nur kurz in Geschäften auf. Das könnte man bundesweit umsetzen.“

Landtagswahl Herbst 2023
Die Wandlungsfähigkeit des Markus Söder
Aha, auf einmal. Diese Erkenntnis hatte ohnehin jeder Bürger seit zwei Jahren. Söders Wende ist kein Wunder, denn das Bayerische Verwaltungsgericht hatte zuvor die unsinnige 2G-Regel im Einzelhandel gekippt. Ja, da schau her, der Söder Markus dreht bei – und wie. In der Gastronomie könne man die 2G-Regel (also: geimpft oder genesen) beibehalten, aber auf einen zusätzlichen Test verzichten. Zudem sollten wieder mehr Zuschauer in Stadien.

Brot und Spiele zum öffentlichen Vergessen und Ablenken vom eigenen Politikversagen. Ihr Kinderlein kommet wieder ins Theater und in die Stadien. Euer Söder Markus schlägt vor: „Derzeit dürfen Kulturveranstaltungen 50 Prozent Zuschauer haben, da können wir bundesweit auf 75 Prozent gehen.“ Auch das Runde soll wieder mit mehr Publikum ins Eckige: „Beim Fußball sind wir jetzt bei 25 Prozent. Da können wir auf 50 Prozent Zuschauer mit einer Kapazitätsgrenze gehen, allerdings mit Abständen.“ Aber die Corona-Inzidenzen steigen doch so rasant wie nie, müsste sich der Bürger fragen. Was sollte dann diese panische und falsche Corona-Politik?

Markus Söder ist die wendige Wetterfahne der Union

In Unionskreisen gilt Söder längst als legitimer Nachfolger seines Vorgängers Horst Seehofer. Beide sind die wendigen und windigen Wetterfahnen der CSU. Sie drehen sich blitzartig immer in die Richtung, in die der Wind von den Stammtischen weht. Auch auf den Straßen Bayerns geht es stürmisch zu. Immer mehr Bürger ’spazieren‘ gegen die rigorose Corona-Politik mit Freiheitsberaubung, Zwangsimpfung und vielerorts sinnlosen Regeln.

Aus gutem Grund: Rund um Deutschland lassen Regierungen die Masken fallen, geben wie in Dänemark, Finnland und Schweden das harte Corona-Regime auf oder lockern immer mehr Regeln wie Tschechien, Polen oder Italien. Nur Deutschland will mit seiner Ampelregierung an der Spitze in Tateinheit mit RKI und STIKO den Panikkurs weiter durchziehen. Österreich tue es ja auch, sagen sich die Regierenden in Berlin.

Doch eben längst nicht mehr alle. Es stehen Wahlen in vielen Bundesländern an. Rechtzeitig vor seinem Entscheid im Herbst 2023 dreht Wetterhahn Söder bei und passt sich dem Gegenwind aus dem Volk an. Seine Hoffnung – in 18 Monaten hätten die Wähler dann sein drastisches Corona-Regieren wieder vergessen. Parteipolitik denkt immer nur in Wahlperioden von vier oder fünf Jahren. Wähler leiden am Wahltag immer an akuter Vergesslichkeit. Wird es wieder so sein?

Lockerungsdruck auf Bundesregierung
Vorbild Dänemark: Schleswig-Holstein beendet 2G im Einzelhandel
Und wer hat denn noch Wahlen demnächst? Richtig: Schleswig-Holsteins Regierungschef Daniel Günther im Mai. Das grüne Nordlicht mit CDU-Parteibuch reiht sich auch schnell in die Öffnungsfront ein. „Trotz anhaltend hoher Infektionszahlen werden in Schleswig-Holstein ab dem 9. Februar einige Corona-Regeln gelockert“, tönt es in den Nachrichten. Pfeif auf Inzidenzen, mit denen wir die Bürger jetzt jahrelang in Angst und Schrecken gehalten haben, sagen sich nun die Regierenden. Wahlen sind wichtiger, es geht jetzt um ihre Jobs. Also kündigt CDU-Günther im Bereich Einzelhandel und Gastronomie Lockerungen an. Schon diese Woche entfällt mit der neuen Landesverordnung die 2G-Regel im Einzelhandel. Der neu zu wählende Regierungschef verweist urplötzlich auf eine „beherrschbare Lage“ in den Krankenhäusern. Doch das war sie schon monatelang vorher.

Auch bei Großveranstaltungen wolle man wieder mehr wagen, verspricht Günther seinen Wählern. Die Chefs der Staats- und Senatskanzleien hätten beschlossen, dass Veranstaltungen im Innenraum bis zu 4.000 Personen möglich würden, bei einer Auslastung von 30 Prozent. Bei Großveranstaltungen im Außenbereich seien bis zu 10.000 Personen zugelassen, bei einer Auslastung von 50 Prozent.

Auch in Hessen kratzt die CDU rechtzeitig vor der Wahl im Herbst nächsten Jahres die Kurve. Regierungschef Volker Bouffier kündigt wie sein CDU-Kollege Günther die Öffnungszahlen für Veranstaltungen und Stadien an, ebenso wie den Wegfall der 2G-Pflicht im Einzelhandel. Auf einmal mache es keinen Sinn mehr, zwischen Geschäften des Grundbedarfs und den übrigen Einzelhändlern zu unterscheiden, erklärt Bouffier. Das hatte erstens jeder Bürger gewusst. Das hätte er zweitens schon im letzten Jahr tun können, aber da hatten die CDU-Granden noch Angst vor Kritik am rigiden Corona-Kurs ihrer Kanzlerin Dr. Angela Dorothea Merkel.

Ministerpräsident bedient Ressentiments
Hendrik Wüst: "individuelle Freiheit nicht über die Freiheit der Allgemeinheit stellen"
Nur die beiden CDU-Regierungschefs Tobias Hans aus dem Saarland und Hendrik Wüst aus Nordrhein-Westfalen haben wohl den Knall noch nicht gehört. Hans erklärt jüngst zur Bund-Länder-Konferenz: „Die Corona-Fallzahlen steigen bundesweit rasant an, weil Omikron sehr viel ansteckender ist als die bisherigen Varianten. Auch, wenn Omikron nach derzeitigen Erkenntnissen glücklicherweise weniger schwere Krankheitsverläufe verursacht, können uns die hohen Infektionszahlen in Schwierigkeiten bringen.“ Corona-Hardliner Wüst warnt diese Woche den Bund sogar vor einem baldigen Aus der Corona-Schutzmaßnahmen. „Wenn der Bundestag nicht handelt, werden mit Ablauf des 19. März alle Maßnahmen zum Schutz gegen das Virus auslaufen, spätestens nach einer einmaligen Verlängerung“, klagt Wüst. Vermutlich will der CDU-Regierungschef unbedingt seine Wahl verlieren.

Söder, Bouffier und Günther wollen es offensichtlich nicht. Deren schlagartig einsetzende Kehrtwenden in der Union können selbst langjährige Bundestagsabgeordnete nur belächeln. „Endlich sind sie mal aufgewacht“, kommentiert Axel Fischer, bis 2021 CDU-Parlamentarier. Lachen müssten auch journalistische Beobachter über den aufkeimenden Aktionismus der Union nach dem Verlust ihrer Regierungsmacht im Bund.

So droht jetzt CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt auf der Winterklausur mit einem „Powerplay gegenüber der Ampel“. Das Land erwarte „Führung statt Fata Morgana.” Die Vernebelung der CDU/CSU-Gehirne durch ihre Kanzlerin Angela Merkel scheint vergessen.

Stübgen und Hoffmann
Zwei CDU-Minister in Brandenburg für Lockerungen und gegen Impfpflicht
Beim bayerischen Stelldichein der CSU-Bundestagsabgeordneten in Berlin darf auch der neue CDU-Chef Friedrich Merz seine Aufwartung machen. Man hegt sogar wieder „gemeinsame Träume vom Kanzleramt“, glaubt die Bild zu wissen. Schnell sind sich Söder und Merz im Geiste einig, dass „der Bundeskanzler im Augenblick offensichtlich gelähmt und blockiert ist in dem, was er vielleicht tun könnte, jedenfalls tun müsste.“ Nun gut, das Aussitzen und Abtauchen hat Olaf Scholz schließlich als Vizekanzler bei seiner Chefin Angela Merkel am Kabinettstisch gelernt. Die früheren Regierungspartner CDU und CSU sahen dabei immer schön zu und hoben brav ihre Hände.

Damit das nicht mehr so auffällt, lobt Merz, der sicher bald auch zum Vorsitzenden der Bundestagsfraktion gewählt wird, noch seinen Amtskollegen aus München. Selbstverständlich unterstütze er Söders Lockerungsambitionen, etwa bei der Rückkehr der Fans in die Stadien. Viel mehr Befreiung von der höchst umstrittenen deutschen Corona-Politik kam jedoch nicht. Merz fürchtet wohl die sofort einsetzende Kritik der regierungstreuen Presse.

Union bittet geschädigte Gastronomen skrupellos um Spenden

Wie skrupellos sich die Union jetzt ihrer Merkel-Vergangenheit ohne Aufarbeitung entledigen will, zeigt ein Hinweis von der Parteibasis in Baden-Württemberg. Andreas Philipp, Inhaber der Gaststätte Andreasbräu aus Eggenstein-Leopoldshafen, und sein Betriebsleiter Florian Nagel, waren sprachlos, als ihnen Post von der CDU ins Haus flatterte und sie den Brief öffneten. Die Union Baden-Württembergs bat darin allen Ernstes um eine „großzügige Spende”.

Ja, es ist kein Scherz. Im Brief des Landesschatzmeisters mit dem Betreff „Endlich Klarheit“, heißt es, die CDU wolle nach der Wahl von Friedrich Merz zum Bundesvorsitzenden erreichen, wieder besser in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden.

Was für ein übler Witz! „Wir kämpfen täglich darum zu überleben und Arbeitsplätze zu erhalten, aber die Bundes- und Landesregierung hauten uns täglich eine rein”, wettert ein Gastronom aus dem Landkreis Karlsruhe über die katastrophale Situation des Gastgewerbes. „Als Angela Merkel und Jens Spahn die Menschen in Panik versetzten, gab es nur wenige Abgeordnete, die ein offenes Ohr für unsere Probleme hatten.“

Jetzt will die Union für ihre politische Feigheit auch noch Geld: Spenden der Bürger – eben skrupellos. So funktioniert heute Politik.

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